In den USA wird sich die Erholung des Konjunkturzyklus durch die Straffung der Geldpolitik früher zeigen als in der EU. Die Komplexität, mit der die EZB konfrontiert ist, wird von Quartal zu Quartal größer.
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Zentralbanken und Regierungen sind auf Autopilot. Die Marktteilnehmer haben sich an die Kommunikationsübungen auf beiden Seiten der Geld- und Fiskalinsel gewöhnt. Dennoch übertrifft die Qualität der Reaktion in den USA die europäische Politik bei weitem.
Jeder sollte inzwischen begriffen haben, dass die Zentralbanken nicht in der Lage sind, Fehlfunktionen auf der Angebotsseite zu beheben. Das Überschießen der Inflation wird die US-Leitzinsen weit über den neutralen Punkt hinausbringen. Der Markt geht davon aus, dass der Leitzins im ersten Quartal 2023 bei etwa 3,75 Prozent liegen wird, und kalkuliert dies auch ein. Das ist nicht schlecht. Der zweijährige Zinssatz für US-Schatzpapiere von 3,4 Prozent bietet einen angemessenen anleihentechnischen Schutz, wenn die US-Notenbank Fed ihre Politik innerhalb eines Jahres strafft. Der Rückgang der marktbasierten zweijährigen Inflationserwartungen von fast 5 Prozent Ende März auf 2,75 Prozent Ende August spricht Bände.
Auch wenn in der Finanzpresse der Ruf nach einer Inflationsentschärfung laut wird, sind die Signale der kurz-, mittel- und langfristigen US-Inflationserwartungen nicht alarmierend. Die US-Anleihemärkte haben sich angesichts der glaubwürdigen Fed-Politik an eine flache Renditekurve mit einer gewissen Inversion am kürzeren Ende gewöhnt. Die knappe und unmissverständliche Botschaft von Fed-Chef Jerome Powell in Jackson Hole könnte die negative oder aufwärts gerichtete Volatilität der US-Zinsen bis zum Jahresende verringern. Die Fed konzentriert sich ausschließlich darauf, den Inflationstrend zu brechen und rechnet mit einer beschleunigten Rückkehr zum Zielwert.
Da sich die finanziellen Bedingungen für die Haushalte (und in geringerem Maße auch für die Unternehmen) verschärfen, wird eine Verlangsamung der Gesamtnachfrage zum Basisszenario. Außerdem hofft man, dass sich der Arbeitsmarkt eher früher als später abkühlen wird. Die Furcht vor einer zweiten Runde der Lohninflation macht es erforderlich, dass die Zahl der offenen Stellen zurückgeht oder, und das ist zynisch, dass die Unternehmen mit dem Abbau von Arbeitsplätzen beginnen. Ersteres - ein geringeres Missverhältnis zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage - kann mit einer Arbeitslosenquote einhergehen, die sich auf einem niedrigen Niveau von 4 Prozent bewegt, während sie heute bei 3,6 Prozent liegt. In einem solchen Szenario würde die Arbeitslosenquote längerfristig stabil bleiben.
Das zweite Szenario, also Unternehmen, die aktiv Mitarbeiter kündigen, ist weniger wahrscheinlich, da neben längeren Vorlaufzeiten bei der Suche nach Ersatzarbeitskräften auch höhere Wiedereinstellungskosten befürchtet werden, sobald der Zyklus wieder vielversprechender wird. Ein solches Szenario würde eine Rückkehr zu einer Arbeitslosenquote von 5 oder 6 Prozent bedeuten, was eine Senkung der Leitzinsen zur Folge hätte.
Es ist zu erwarten, dass die US-Finanzpolitik in den letzten beiden Jahren der aktuellen Regierung von Präsident Joe Biden weiterhin unterstützend wirken wird. Im August hat die US-Exekutive zwei strategische Gesetze verabschiedet. Die Unterzeichnung der Durchführungsverordnung zur Umsetzung des "Chips and Science Act 2022" (eines 50-Milliarden-Dollar-Pakets zur Unterstützung des US-Halbleitersektors) neben dem "Inflation Reduction Act" zeugt von einer engagierten (sogar überparteilichen) Exekutive. Der "Inflation Reduction Act of 2022" zielt darauf ab, die Inflation durch eine Verringerung des Defizits, eine Senkung der Preise für verschreibungspflichtige Medikamente und Investitionen in die heimische Energieerzeugung einzudämmen und gleichzeitig saubere Energie zu fördern.
Gegen Ungleichheit, für eine Energiewende
Der "Inflation Reduction Act of 2022" ist bahnbrechend, da er sowohl die Ungleichheit bekämpft (keine steuerlichen Auswirkungen auf die Einkommen der unteren und mittleren Schichten) als auch eine Energiewende zur Bekämpfung des Klimawandels fördert. Sollte man die US-Geld- und Fiskalpolitik bewerten müssen, erhielte sie eine solide Eins. In der ersten Hälfte des heurigen Jahres haben die US-Aktienmärkte die im Vorjahr angestauten Bewertungsspitzen beseitigt. In der zweiten Jahreshälfte wird sich die Spreu weiter vom Weizen trennen. Die alten (berechenbaren und profitablen) Technologieführer werden sich gegenüber den (unbewiesenen) neuen Technologieunternehmen (mit geringerer Marktvisibilität und weniger oder gar nicht profitabel), die eine weitere Neubewertung benötigen, robust verhalten. Die Debatte über eine weiche oder harte Landung wird im Nachhinein an Bedeutung verlieren, da die Geld- und Steuerpolitik wieder die Kontrolle übernommen hat.
Wenn wir die monetären und finanzpolitischen Herausforderungen, denen sich Europa gegenübersieht, bewerten, fehlt es uns an Transparenz und Vorhersehbarkeit. Die Aussichten sind ernüchternd. Tatsächlich wird die Komplexität, mit der die EZB konfrontiert ist, von Quartal zu Quartal größer. Mit der Ankündigung des TPI (Transmission Protection Instrument) am 21. Juli wurde das EZB-Instrumentarium erweitert. Das TPI zielt darauf ab, die effektive Übertragung der Geldpolitik im gesamten Kreis der bald 20 Mitglieder zu verbessern, wobei Kroatien am 1. Jänner 2023 beitritt. Der Unterschied zur Fed ist deutlich. Die EZB versucht, den geldpolitischen Transmissionsmechanismus zu verbessern.
Die EZB darf sich keine Fehler erlauben
Man kann dies wie folgt lesen: Wenn die EZB bei der Straffung der Geldpolitik, um ihr Hauptmandat zu erfüllen - nämlich die Inflation wieder auf 2 Prozent zu bringen -, einen Fehler macht, besteht die echte Gefahr, dass das Konstrukt der Wirtschafts- und Währungsunion in die Luft fliegt. Das passiert, wenn die Transmissionsmechanismen versagen. Ein ähnlicher Blick auf die zweijährigen Inflationserwartungen zeigt, dass Deutschland bei etwa 7 Prozent, Frankreich bei knapp 5 Prozent und Italien bei 4,4 Prozent liegt. Die kurzfristigen Inflationserwartungen sind sehr uneinheitlich. Die fünfjährigen und zehnjährigen Inflationserwartungen in den oben genannten führenden EWU-Volkswirtschaften sind stärker aneinander angeglichen und liegen bei 3 Prozent beziehungsweise 2,5 Prozent - ein kleiner Silberstreif am Horizont.
Es ist zu erwarten, dass die EZB einen vorsichtigen Straffungspfad einschlagen wird. Die für 8. September angekündigte Leitzinserhöhung um 50 Basispunkte (0,5 Prozentpunkte) ist das Basisszenario. Mit weiteren Anpassungen um 25 Basispunkte, um 1,25 Prozent im ersten Quartal 2023 zu erreichen, ist zu rechnen. Der Markt hat diese Reaktionsweise der EZB einkalkuliert. Auch die derzeitige Fragmentierung beruht auf dieser Prämisse. Der wichtigste Spread zwischen zehnjährigen deutschen Bundesanleihen und italienischen Staatsanleihen schloss zuletzt bei 2,3 Prozent. Das Fehlen von Kenntnissen und Details über Auslösungspunkte oder Auslösungsereignisse, die in das TPI-Instrument der EZB eingebettet sind, sollte spekulatives Verhalten gegen italienische Anleihen verhindern und institutionellen Anlegern genügend Sicherheit bieten, um ihre Positionen bei italienischen Staatsanleihen neutral zu halten.
Die Gasspeicher füllen und den Verbrauch einschränken
Das lässt alle auf die europäische Energiekrise blicken. Die autarken USA sind in dieser Hinsicht gut isoliert. In Europa beginnt die Winterheizperiode am 1. Oktober. Die EU wird ihre Gasspeicher auf mehr als 90 Prozent ihrer Kapazität auffüllen müssen, um den Winter zu überstehen. Die Sofortmaßnahmen bestehen darin, den Gasverbrauch heute einzuschränken und das eingesparte Gas zu speichern. Die Internationale Energieagentur hat zu einer harmonisierten Einführung der folgenden Initiativen aufgerufen:
Einführung von Auktionsplattformen, um Anreize für die industriellen Gasverbraucher in der EU zu schaffen, ihre Nachfrage zu senken, sodass die vertraglich vereinbarten Gaslieferungen leicht zu Geld gemacht werden können.
Minimierung des Gasverbrauchs im Energiesektor und, wo möglich, Ausbau der Atomkraft. In vielen EU-Ländern wäre in dieser Hinsicht eine Umkehr der Politik erforderlich. Die Stromnachfrage wird in den nächsten Jahrzehnten unaufhörlich steigen.
Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen Gas- und Strombetreibern in ganz Europa sowie Harmonisierung der Notfallplanung in der EU auf nationaler und europäischer Ebene.
Schließlich können wir den Strom- und Gasbedarf der Haushalte senken, indem wir Normen für die Kühlung und Heizung festlegen und kontrollieren. Diese Option sollte als letztes Mittel eingesetzt werden.
Dem "REPowerEU"-Plan fehlt die unmittelbare Wirkung
Die Art des "REPowerEU"-Plans ist zu sehr auf langfristige Ziele ausgerichtet. Ihm fehlt die unmittelbare Wirkung auf Unternehmen und Haushalte, die in den nächsten sechs Monaten in Not geraten werden. Die EU-Kommission sollte direkte Maßnahmen ergreifen, die in allen Mitgliedsländern der Eurozone Anwendung finden.
In der Zwischenzeit stehen heute die Gaspreisverschiebungen im Mittelpunkt und könnten für beängstigende Schlagzeilen sorgen. Es sind nicht nur die einmonatigen Gaspreise, die neue Höchststände erreichen. Die gesamte Gaspreiskurve für das Jahr 2023 und darüber hinaus wird nach oben korrigiert. Der Weg in die Zukunft ist eine beschleunigte Substitution von (russischem) Gas durch andere Energiequellen. Substitution funktioniert. Wenn wir den Ein-Monats-Kontrakt für niederländisches Erdgas in Höhe von 307 Euro je Megawattstunde auf den Rohöl-Frontkontrakt der Sorte Brent hochrechnen, kommen wir auf einen Preis von rund 392 Euro. Brent kostete am Dienstag knapp 93 US-Dollar.
Die Auswirkungen auf das EU-Wachstum werden höher sein als in den USA. Das bedeutet auch, dass sich die Erholung des Konjunkturzyklus durch die Straffung der Geldpolitik zuerst in den USA zeigen wird. Die geld- und finanzpolitischen Divergenzen zwischen den USA und der EU werden in den nächsten sechs bis zwölf Monaten zunehmen. Der Abwärtstrend des Euro gegenüber dem US-Dollar wird sich in nächster Zeit nicht umkehren.