Warum es 314 Jahre dauerte, bis das erste Mal eine Frau den Leitartikel der "Wiener Zeitung" geschrieben hat. Ein Nachtrag zur Debatte.
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Nein, wir wollten kein Lob. Genauso wie das hier jetzt keine Rechtfertigung ist. Angesichts der Tatsache, dass der Leitartikel unserer Kollegin Solmaz Khorsand am Wochenende teilweise zu heftigen Reaktionen geführt hat, sehen wir uns aber gezwungen, einige Klarstellungen zu treffen. Zunächst einmal ging es tatsächlich nicht darum, Beifall zu heischen, sondern auf eine Aktion aufmerksam zu machen, mit der wir ganz allgemein die Frauen in unserer Redaktion und außerhalb sichtbarer machen wollen – über den Frauentag hinaus. Wohlgemerkt: Sichtbarer. Denn sichtbar sind sie jetzt schon. 48 Prozent der Redaktion der "Wiener Zeitung" sind Frauen (das mag ausbaufähig sein, aber die letzten zwei Prozent bekommen wir auch noch hin).
Vier der sieben Ressorts werden von Frauen geleitet, und zwar nicht erst seit gestern. Judith Belfkih leitet das Feuilleton seit 2009, 2011 kam Christina Böck dazu. Das Österreich-Ressort (Innenpolitik, Chronik, Wirtschaft) wird seit 1998 von Brigitte Pechar geleitet, davor war Gisela Vorrath immerhin seit 1983 Innenpolitik-Chefin. Die Beilage "Wiener Journal" wird seit 2005 von Brigitte Suchan geleitet, Tamara Arthofer war bei ihrer Ernennung zur Sportchefin 2006 nicht nur die erste Frau an der Sport-Spitze einer überregionalen Tageszeitung in Österreich, sondern mit 26 Jahren auch die jüngste. Arthofer ist übrigens auch die Vorsitzende unseres Redaktionsbeirats – im Gegensatz zu vielen anderen Medienhäusern verfügen wir über eine solche Institution.
Der "Wiener Zeitung" Altbackenheit oder eine Alibi-Aktion vorzuwerfen, ist daher geradezu hanebüchen. Wir dachten, wir wären diesem Image schon entwachsen. Ja, die Geschichte unseres Blattes geht 314 Jahre zurück. Aber dass der Leitartikel zum ersten Mal in dieser Zeit von einer Frau geschrieben wurde, hat zum einen damit zu tun, dass in den ersten 302 Jahren überhaupt keine Leitartikel erschienen sind.
Der Leitartikel wurde 2005 vom damaligen Chefredakteur Andreas Unterberger als "Nicht ganz unpolitisches Tagebuch" eingeführt und erschien im Falle von dessen Abwesenheit einfach gar nicht. Mit dem Wechsel zu Reinhard Göweil 2009 wurde der Leitartikel für die gesamte Chefredaktion geöffnet, blieb aber – anders als in anderen Medien – dieser vorbehalten. Natürlich kann man fragen, warum wir keine Chefredakteurin haben. Aber diesen Vorwurf können wir an beinahe jedes andere Medium im Land delegieren.
Die Frage sollte also sein, warum Medienlandschaft und Politik noch immer von den in Khorsands Leitartikel erwähnten weißen Männern in Anzügen dominiert werden. Und was die Gesellschaft tun kann, um diese Normung aufzubrechen. Nein, wir wollten kein Lob. Wir wollten genau diese Frage stellen.