In der equatorianischen Hauptstadt Quito fand vom 25. bis 30. Juli das erste Sozialforum des amerikanischen Kontinents (Foro Social de las Americas) statt, ein Ereignis, auf das vor allem die lateinamerikanischen Indianerbewegungen seit Jahren sehnsüchtig gewartet hatten. Aber nicht nur für sie wurde das kontinentale Treffen, an dem sich 10.000 VertreterInnen von über 900 Organisationen aus 45 Ländern beteiligten, zum Fanal für eine Reihe von Anklagen gegen die Regierungen, die sich dem Diktat der USA bedingungslos unterworfen haben.
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"Wenn täglich tausende Kinder an Unterernährung sterben, dann kann man nur von einem strukturellen Völkermord sprechen", sagte der bekannte peruanische Soziologe Aníbal Quijano in seinem Einleitungsstatement und fügte hinzu: "Dieser Prozess lässt sich nicht mehr umkehren; man kann auch die derzeit herrschende Armut nicht mehr demokratisieren. Man muss die Rahmenbedingungen zerstören, die sie hervorgebracht hat".
Auch Leonidas Iza, der Präsident der CONAIE (Konföderation der indianischen Nationalitäten Equadors), des stärksten Indianerverbands auf dem amerikanischen Kontinent, nimmt sich kein Blatt vor den Mund: "Es ist sinnlos, einen Dialog mit einer Regierung zu führen, die nicht zuhören will".
Iza, der vor einigen Monaten einem Attentat nur knapp entgangen war, weiß nur zu gut, wovon er spricht. Nachdem Oberst Lucio Gutierrez eine sozial verträgliche Wirtschaftspolitik versprochen und deshalb im Jahr 2002 von Millionen Indios zum equatorianischen Staatspräsidenten gewählt worden war, vollzog er eigenmächtig einen neoliberalen Kurswechsel. Die Minister der Indio-Partei Pachakutik, Nina Pakari (Aussenamt) und Lucho Macas (Landwirtschaft) warf er kurzerhand aus seinem Kabinett, ohne auf ihre und die Forderung der CONAIE nach einem sofortigen Stopp der Privatisierungen auch nur ansatzweise einzugehen. Heute will Gutierrez sogar die indigenen Führungsriegen in den staatlichen Entwicklungsinstitutionen CODEMPE und PRODEPINE durch Mitglieder der evangelikalen FEINE ersetzen.
Den Hintergrund in diesem für die Demokratie in ganz Lateinamerika äußerst bedrohlichen Trauerspiel bildet das von den USA gesetzte Szenario für die Schaffung einer kontinentalen Freihandelszone ALCA. Diese hatte bei der Welthandelskonferenz im September des Vorjahres in Cancún, Mexiko, aufgrund des massiven Widerstands von Brasilien, Indien und Südafrika einen großen Rückschritt zu verzeichnen. Zur selben Zeit wie das Foro de las Americas fanden heuer allerdings in Peru Verhandlungen statt, in denen sich die Präsidenten der Andenländer Kolumbien, Peru, Ecuador und Bolivien den Liberalisierungsplänen der US-Regierung bedingungslos unterwarfen.
Dass es bei solchen bilateralen Gesprächen, in denen die US-Regierung George W. Bushs ihre diplomatische Niederlage bei den multilateralen Verhandlungsrunden der WTO, des IWF und der Weltbank zu verdrängen sucht, nicht nur um die wirtschaftliche Vorherrschaft des großen Bruders im Norden geht, wurde auf dem Sozialforum allen klar, die den Ausführungen des ersten lateinamerikanischen Friedensnobelpreisträgers Adolfo Perez Esquivel und der mexikanischen Politologin Maria Esther Cecena zugehört hatten. Letztere zeigte erstmals in der Öffentlichkeit die vom State Department in Zusammenarbeit mit dem Pentagon ausgearbeiteten Landkarten, auf denen eine Dreiteilung der westlichen Hemisphäre in "Disziplinierte" (vor allem EU und Kanada), Pufferstaaten (z.B. Mexiko) und Feindesländer wie Venezuela, Kuba, Brasilien und die Andenstaaten sichtbar gemacht wurden.
Die während des Kalten Kriegs entstandene Doktrin der Nationalen Sicherheit besteht also nach wie vor", sagte Perez Esquivel, "nur dass anstelle der Kommunisten im Jargon der einzig verbliebenen Supermacht die so genannten Terroristen und Drogenhändler getreten sind. Als Beispiel dafür zitiert der Nobelpreisträger die militärischen Richtlinien, die an die Interventionsstreitkräfte auf der Karibikinsel Haiti ausgegeben wurden: "Die Friedenskräfte sind jederzeit befugt, letale Mittel anzuwenden, wenn diese der Prävention von Konflikten dienen".
Wegen des in ganz Lateinamerika vorhandenen Agressionspotentials, das die mit dem Pentagon verbündeten Armeen derzeit darstellen, war unter den Anwesenden auch die Bereitschaft groß, die Regierungen Venezuelas und Kubas zu unterstützen, die derzeit buchstäblich auf der Abschussliste der USA stehen. Das kam auch bei dem zweitägigen "Forum der Parlamentarier" zum Ausdruck, in dem sich VolksvertreterInnen des Kontinents vor allem auf Erklärungen des vor einigen Monaten pensionierten Oberbefehlshabers des Southern Commands, General James Hill bezogen, in denen die "radikalen Populisten, die sich die Armut ihrer Bevölkerung zunutze machen", neben den Terroristen als "Feinde Amerikas" abgestempelt wurden.
Aber nicht nur von widerspenstigen Regierungen oder der wachsenden Gefahr einer Ausweitung des Krieges in Kolumbien war auf dem Amerikanischen Sozialforum die Rede. In den insgesamt 400 Seminaren, Konferenzen und Workshops fanden auch andere Initiativen ihren Niederschlag. So erging etwa ein Aufruf zum Boykott des US-Konzerns Coca-Cola (u.a., weil Coca-Cola in Kolumbien vermutlich Gewerkschafter ermorden ließ) und wurden Kampagnen gegen die Medienkonzentration und die Korruption beim Verkauf von staatlichen Unternehmungen initiiert.
Und nicht zuletzt erreichten die Indianerorganisationen, die unmittelbar vor dem Sozialforum in Quito ihr Zweites Gipfeltreffen der Indianervölker (Segunda Cumbre de los pueblos indígenas) abgehalten haben, dass ihr Recht auf Selbstbestimmung und Autonomie als wichtiger Bestandteil eines kontinentalen Aktionsplans aufgenommen wurde. Vor allem das Recht auf Autonomie gewinnt angesichts der Übergriffe der mit den den Armeen verbündeten transnationalen Unternehmungen von Mexiko bis Feuerland immer mehr an Bedeutung.
Bedrohung durch internationale Ölkonzerne
Beispielhaft dafür ist der Kampf der Indiogemeinde in Sarayacu im Amazonasgebiet von Ecuador, wo sich die bloß mit Pfeil und Bogen bewaffneten Indianer gegen einen argentinisch-italienschen Erdölmulti zur Wehr setzen. Aber auch die chilenischen Mapuche-Indianer, die Kunas in Panama und die Indio-Organisationen in Südmexiko fordern die Einhaltung internationaler Verträge wie des Artikels 169 der Genfer ILO-Konvention zum Schutz der Minderheiten ein.
Dabei kommt dem Begriff der humanitären Nachhaltigkeit, die das Leben der Ureinwohner des amerikanischen Kontinents ebenso schützen soll wie das der Tiere und Pflanzen, eine besondere Bedeutung zu.
Roua dos Santos, eine Vertreterin des Netzwerks der Amazonasindianer COICA zeigt die Gefahr, die den Menschen heute droht, durch eine Geschichte auf, die sich die Leute in ihrem Dorf erzählen: "Ein Jäger ging in den Urwald, um ein Wildschweine zu erlegen. Nachdem er immer mehr von ihnen getötet hatte, war er gezwungen, immer tiefer in den Dschungel vorzudringen, um die Tiere zu jagen. Schließlich bemerkte erzu seinem Entsetzen, dass ihm auf der Brust und auf den Armen, auf den Beinen und im Gesicht viele Stacheln gewachsen sind: Er war selbst zum Wildschwein geworden".