Janukowitsch pokert bis zur letzten Minute zwischen Moskau und Brüssel.
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Wien. Eigentlich sollte im Streit um die Ukraine zwischen Moskau und Brüssel alles längst entschieden sein. Es war September, als - wenn man ukrainischen Zeitungen glauben darf - Präsident Wiktor Janukowitsch seine Mannschaft im Kiewer Kino "Sorjanyj" zusammentrommelte, um seinen lang erwarteten Entschluss kundzutun. Sichtlich nervös soll sich der Autokrat dabei über den großen Nachbarn im Norden beklagt haben: Russland, das Ende August einen kleinen Handelskrieg gegen das Nachbarland inszeniert hatte, demütige und beleidige die Ukraine. Eine partnerschaftliche und respektvolle Haltung Moskaus sei in den gegenseitigen Beziehungen nicht zu erwarten. Die Entscheidung seiner Administration, das Assoziierungsabkommen mit der EU, das Moskau ein Dorn im Auge ist, zu unterzeichnen, sei daher "alternativlos".
Ein paar Wochen später ist - trotz der EU-Euphorie, die bei westlich orientierten Ukrainern ausgebrochen ist - von "Alternativlosigkeit" nur noch wenig zu spüren. Laufend sollen in letzter Zeit Verhandlungen zwischen russischen und ukrainischen Regierungsstellen stattfinden, über deren Inhalt heftig spekuliert wird. Vor allem aber ist das wichtigste Hindernis auf einem Weg der Ukraine Richtung EU noch immer nicht ausgeräumt: der Fall Julia Timoschenko.
Die Zeit läuft davon
Brüssel fordert die Freilassung der inhaftierten und erkrankten Oppositionschefin. Janukowitsch sperrt sich aber nach wie vor gegen eine Pardonierung seiner schärfsten Rivalin. Die Ex-Premierministerin könnte höchstens "Gefängnisurlaub" bekommen, heißt es in Kiew - sie könnte dann zwar zur Behandlung nach Deutschland ausreisen, müsste aber nach ihrer Genesung bei Rückkehr in ihre Heimat den Rest ihrer Haftstrafe absitzen. Ob eine solche Regelung eine Beendigung der "selektiven Justiz" darstellt, wie es Brüssel von Kiew fordert, wird von vielen bezweifelt.
Janukowitsch selbst hat die heiße Kartoffel Timoschenko an die Werchowna Rada, das ukrainische Parlament, weitergereicht. Sie soll das Gesetz verabschieden, das Timoschenko die Ausreise nach Deutschland gestattet. Doch die Regierung ist in der Causa Timoschenko gespalten: Die Fraktion der Kommunisten, die Janukowitschs "Partei der Regionen" (PdR) in der Rada die Mehrheit sichert, ist Anhängerin einer engen Bindung an Russland und lehnt eine EU-Assoziierung der Ukraine strikt ab. Die PdR benötigt also die Stimmen der prowestlichen Opposition - die mit einer Zustimmung zum "Gefängnisurlaub" wiederum das Urteil gegen Timoschenko, das sie immer bekämpft hat, legalisieren würde.
Viel Zeit bleibt den Parlamentariern in Kiew nicht mehr: Der 18. November gilt für Brüssel als absolute Deadline für die geplante EU-Anbindung der Ukraine. Und in der Werchowna Rada sind vor dem 18. November nur noch diese Woche Sitzungen anberaumt. Zudem muss nach Verabschiedung des Gesetzes noch Zeit bleiben, damit das Gericht eine Entscheidung in dem Fall treffen kann. Die Verhandlungen im Parlament laufen deshalb auf Hochtouren, eine Entscheidung kann in dieser Woche jederzeit fallen.
Janukowitsch braucht Geld
Oder auch nicht: "Die Vorbereitungen für die Ausreise Timoschenkos laufen erstaunlich langsam", sagt Kyryl Savin, Politologe in Kiew. "Wenn Janukowitsch sich bereits eindeutig auf Brüssel festgelegt hätte, hätte er den Prozess auch schneller voranbringen können", meint der Leiter der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung zur "Wiener Zeitung". Savin verweist darauf, dass es dem ukrainischen Präsidenten auch ums Geld geht: "Ohne Kredite wird die Ukraine in einigen Monaten absolut pleite sein. Es stehen jetzt große Rückzahlungen an, die Regierung muss auch inländische Schulden bedienen, um beispielsweise ausständige Gehälter oder Stipendien zu zahlen. Dafür gibt es in der Staatskasse kein Geld. Janukowitsch braucht aber dringend rund 10 Milliarden US-Dollar - erst recht im Wahlkampf für die Präsidentenwahlen Anfang 2015. Die kann er nur vom Internationalen Währungsfonds (IWF) bekommen - oder eben von Russland", sagt der Politologe.
Mit dem IWF liegt die Ukraine allerdings im Clinch. Die UN-Sonderorganisation mit Sitz in Washington fordert von Kiew für die Gewährung eines Kredits unter anderem die Erhöhung von Gas- und Heizkosten für die Haushalte - einen Schritt, den Janukowitsch in Vorwahlzeiten wohl eher ungern setzen wird. Angeblich hat die Ukraine dem IWF die Erhöhung der Gaspreise für Industrielle, die viel verbrauchen, vorgeschlagen. Die EU drängt den IWF, mit Kiew zu verhandeln.
Putins Angebot
Als Alternative bietet sich Russland an: Bei einem Treffen in Sotschi im Oktober soll sich Kreml-Chef Wladimir Putin nachgiebig gezeigt haben. In Kiew gehen Gerüchte um, der russische Präsident wäre von seiner Forderung, dass die Ukraine Moskaus "eurasischem" Zollunionsprojekt mit Weißrussland und Kasachstan beitreten soll, abgerückt. Dazu würde der hohe Gaspreis für Kiew deutlich gesenkt werden. Die Bedingung dafür wäre, dass alles so bleibt, wie es ist - Timoschenko hinter Gittern und die Ukraine ohne einen Assoziierungsvertrag mit der EU.
Dafür, dass Kiew eine solche Lösung präferieren könnte, spricht auch, dass die Staatsanwaltschaft ausgerechnet jetzt, im Ringen um das EU-Abkommen, neue Untersuchungen gegen Timoschenko anstellt. Gemeinsam mit Ex-Premier Pawlo Lazarenko soll sie in den 1990er Jahren Steuern hinterzogen haben - 200 Millionen US-Dollar. Für Begeisterung wird das in Brüssel nicht gerade sorgen - ebenso wenig wie der Umstand, dass dem aussichtsreichsten Kandidaten der Opposition, Vitali Klitschko, bei den Präsidentenwahlen 2015 möglicherweise die Kandidatur verwehrt werden wird: Der Boxer hatte die letzten Jahre nicht in der Ukraine verbracht und in Deutschland Steuern gezahlt.