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Neu denken - gar nicht leicht

Von Reinhard Göweil

Leitartikel
Chefredakteur Reinhard Göweil.

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Österreich hat ein neuer Trend erreicht, das "neue Denken". Nach einem jahrelangen Stillstand in der Gesellschaft (bei weitem nicht nur der Politik) ist nun Fortschritt, Innovation und Avantgarde angesagt. Hinter dem Stillstand stand ein Wohlstand, der satt machte. Hinter dem jetzigen Aufbruch im Denken steckt die Erkenntnis, dass die vergangenen Jahre unendlich fad waren, denn die altbekannten Rezepte funktionieren nicht mehr.

Der Arbeitsmarkt steckt in einem Umbruch, die meisten müssen in ihren Jobs (egal ob selbst- oder unselbständig) Flexibilität in ungeahntem Ausmaß beweisen.

Die Industrie steht vor einem Prozess der Automatisierung, der das Fabriks-Konzept wegspült wie Hochwasser einen alten Damm.

Neue Kommunikationstechnologien bieten mittlerweile mehr Möglichkeiten, als ein Einzelner verkraften kann.

Neue Formen des Zusammenlebens räumen mit den herkömmlichen europäischen Familien-Modellen auf - in Stadt und Land.

In der Kultur und in der Forschung werden Ebenen betreten, die vor zehn Jahren bestenfalls in Science-Fiction-Romanen vorgekommen sind.

Sogar die Wahrnehmung von Gott - egal in welcher Religion - hat sich in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt. Das alles sind Entwicklungen, die seit längerem von hellsichtigen Köpfen beschrieben werden. Doch nun kommen diese Entwicklungen in der Gesellschaft an, werden von abstrakten Überlegungen zu Gegebenheiten. Und damit für viele spürbar.

Ja, es stimmt, dass die europäischen (und auch österreichischen) Polit-Systeme darauf nicht vorbereitet sind. Es sind Regeln zur Absicherung einer Stabilität, die sich langsam auflöst.

Nationalstaaten haben keine Bedeutung mehr, weil sie die Probleme nicht mehr lösen können. Demokratie wird in Frage gestellt, weil Menschen verwirrt sind. Noch nie war die individuelle Freiheit in Europa so groß - und gleichzeitig die Überwachung des Einzelnen im Netz.

Die jetzige Entwicklung, Unerhörtes laut zu denken, ist großartig. Angst-Reaktionen auf die kommende Normalität der Instabilität führen zu Diktatur. Bestemm-Reaktionen führen in den Niedergang. Die alten Denkmuster über Bord zu werfen, ist nicht leicht - aber es zahlt sich aus. Und ist lustvoller als einer alten Zeit nachzutrauern, die auch nicht so gut gewesen ist.