Die Anzahl der neuen Selbständigen steigt in Österreich immer weiter an. Ihr Geld im Börserl wird aber immer weniger.
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Wien. Fast jedes Mal, wenn ein Passant in die Entnahmebox greift und eine Gratiszeitung herausholt, blitzt etwas Frust und ein wenig Grant in Herr Dulals Blick auf. "Die Leute kaufen keine Zeitungen", sagt er. Er steht seit sieben Uhr in der Früh neben seinem sorgfältig aufgebauten Zeitungsstand und wartet darauf, dass doch jemand eine Zeitung kauft. Heute ist das erst drei Mal passiert. Herr Dulal ist aus Bangladesch und seit 2009 Asylwerber in Österreich. Eine Arbeitserlaubnis hat er nicht, aber das Gesetz erlaubt ihm, auf eigene Rechnung als Zeitungskolporteur zu arbeiten - von morgens bis abends, sechs Tage die Woche. Er bekommt 25 Prozent vom Verkaufspreis und kommt so monatlich auf etwa 400 Euro; mal mehr, mal weniger. Zusätzlich verkauft er Handy-Wertkarten, die weitere 200 Euro bringen. "Ich komme auf 600 Euro im Monat", sagt er, "Sie glauben nicht? Da!" Er kramt seine wöchentlichen Abrechnungen mit der Vertriebsfirma aus seinem Rucksack. Er ist neu in Österreich, er ist selbständig und er lebt unter der Armutsgrenze.
Immer mehr Selbständige
Die Zahl der selbständig Beschäftigten ist in den letzten Jahren stark gestiegen - seit dem Jahr 2000 um 51 Prozent auf 341.887 Personen laut Sozialministerium. Allein 2013 wurden 15.000 neue Ein-Personen-Unternehmen (EPU) gegründet, das entspricht dem Schnitt der letzten zehn Jahre. Mittlerweile sind 57,3 Prozent der Wirtschaftskammermitglieder EPUs. Bei der Sozialversicherungsanstalt der Gewerblichen Wirtschaft (SVA) sind etwa 45.000 Menschen als neue Selbständige gemeldet, die, wie Herr Dulal, ohne Gewerbeschein arbeiten. Deren Interessen werden weder von der Arbeiterkammer noch von der Wirtschaftskammer vertreten. Vor allem im Baugewerbe, in der Personenpflege und anderen Zuarbeiterjobs steigt die Anzahl der selbständig Beschäftigten mit geringem Einkommen. Inoffiziellen Quellen zufolge sollen die Hälfte der Zuwächse bei den neuen Selbständigen in der Pflege tätig sein. 24-Stunden-Pflegekräfte fallen nämlich in genau diese Kategorie und bekommen oft weniger als 50 Euro pro Tag. Offizielle Zahlen dazu gibt es seitens der SVA aber nicht.
Unfreiwillig frei
Knapp die Hälfte aller Selbständigen verdient weniger als 1000 Euro brutto im Monat. Etwa 12 Prozent gelten als armutsgefährdet. "Die Honorarsätze sind viel zu gering. Viele kommen gar nicht auf Vollzeithonorare, obwohl sie Vollzeit arbeiten", sagt Veronika Kronberger, Zuständige für prekäre Beschäftigungsverhältnisse bei der Gewerkschaft der Privatangestellten, zur "Wiener Zeitung". In vielen Bereichen, in denen Kreative oder Personenbetreuer beispielsweise tätig sind, gibt es keine Mindestlöhne und oft bekommen jene den Auftrag, die am billigsten sind. Zwar wurde das Lohn- und Sozialdumpinggesetz, das seit 2011 in Österreich in Kraft ist und sicherstellen soll, dass der branchenübliche Mindestlohn nicht unterboten wird, verschärft. Allerdings kommt dieses nicht in allen Branchen zur Anwendung. "Eine Verschärfung ist immer gut, aber es muss viel mehr kontrolliert werden. Und das ist ein Problem der Ressourcen", so Kronberger. Trotzdem wurde seit Inkrafttreten des Gesetzes bei 736 Unternehmen in der Bauwirtschaft, Gastronomie und im Handel Unterentlohnung festgestellt. Hinzu kommt, dass sehr viele Freie nicht freiwillig selbständig sind.
Maria ist Architektin und seit kurzem mit ihrem Studium fertig. Sie arbeitet für ein Architekturbüro, muss jeden Tag in die Arbeit, muss Urlaube mit ihren Arbeitgebern absprechen und ist nur für diesen einen Auftraggeber tätig. Trotz allem ist sie als freie Dienstnehmerin auf Werkvertragsbasis beschäftigt und verdient 1200 Euro brutto monatlich - kein Urlaubsgeld, kein Krankenstand, selbst versichert. Sie ist eine sogenannte "Working Poor". Das sind Menschen, die trotz Erwerbstätigkeit Schwierigkeiten haben, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Vor allem junge Akademiker und Hilfsarbeiter, häufig aus den neuen EU-Ländern, rutschen in die Scheinselbständigkeit. Sie sind als Regalbetreuer, Webdesigner oder als Maler auf der Baustelle tätig, ohne dabei angestellt zu sein, obwohl viele die Voraussetzungen einer unselbständigen Arbeit erfüllen. Für ihre Arbeitgeber sind sie allerdings eine sehr billige Alternative im Vergleich zu Angestellten. "Ich schätze, dass mindestens ein Drittel der Selbständigen in Wahrheit scheinselbständig ist", sagt Kronberger. Hinzu kommt, dass manche oft nicht wissen, dass sie nicht angestellt sind und sich selbst versichern müssen. Das sei vor allem bei ausländischen Arbeitnehmern so, erklärt eine Mitarbeiterin der Beratungsstelle für Rumänen und Bulgaren, Kompas. Sie werden über Personalleasing-Firmen angeheuert und werden weder über ihre Rechte noch über ihre Pflichten aufgeklärt.
Hohe Abgaben
Dem widerspricht Thomas Neumann von der SVA, der in der Selbständigkeit auch eine Chance sieht. Er wirft der Gebietskrankenkasse vor, bei Kontrollen auch jene Menschen als unselbständig Arbeitende einzustufen, "die gern selbständig sind" und damit auch die Arbeitgeber zu belasten. Außerdem sei ein Drittel der SVA-Versicherten nebenberuflich frei und habe auch andere Einkünfte. Trotzdem sind die Versicherungsbeiträge für viele eine Belastung. Herr Dulal muss etwa monatlich 41,12 Euro von seinen 600 Euro an die SVA zahlen. Eine zusätzliche, freiwillige Arbeitslosen- und Krankenversicherung kann er sich nicht leisten und bekommt somit Krankengeld erst nach dem 42. Krankheitstag und kein Arbeitslosengeld. Außerdem werden seitens der SVA einkommensabhängige Beiträge erst nach drei Jahren fällig. Für die Nachzahlung zu sparen können sich aber nicht alle leisten.
Eine Dame geht an der Entnahmebox vorbei und kauft Dulal eine Zeitung ab. Er lächelt. "Schauen Sie, 20 Cent Trinkgeld!"