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Neue Bilder von alten Missständen

Von Martin Reiterer

Reflexionen
Gastarbeiter in der DDR: Die "Madgermanes" aus Mosambik im Comic von Birgit Weihe.
© avant

Der lange Schatten des Kolonialismus: Drei Comics bieten bemerkenswerte Annäherungen an das Thema in zeitgemäßer Form und kritischer Tendenz.


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Die kolonialen Bildwelten wuchern in den Hinterköpfen der Europäer. Man wundere sich nicht über weit verbreitete stereotype Vorstellungen von Flüchtlingen etwa aus dem afrikanischen Raum in aktuellen Diskursen. Dagegen bieten drei erfrischend-anregende Comics, die sich mit unterschiedlichen Aspekten des Kolonialismus und postkolonialen Erscheinungen befassen, auch ästhetisch bemerkenswerte Zugänge zum Thema.

Das Spannende an "Raus Rein" ist zum einen das Gesamtprojekt. Das Buch ist in Zusammenarbeit mit Studierenden unterschiedlicher Studienrichtungen (Agrarwissenschaften, Geschichte, Kunst) an der Universität Kassel entstanden und ist das Ergebnis einer zweijährigen Beschäftigung mit der ehemaligen Deutschen Kolonialschule in Witzenhausen, heute Teil der Uni Kassel. Ziel dieser 1900 gegründeten Schule war es, junge deutsche Landwirte für ein Leben in den verhüllend als "Schutzgebiete" bezeichneten Kolonien auszubilden.

Die Herausforderung, sich nicht nur mit aufgearbeitetem Material zu befassen, sondern Archivalien unterschiedlicher Art - Fotoalben, Briefe, Tagebücher, Akten und Artefakte - selbst aufzuarbeiten, habe die Studierenden zwar an die Grenzen des Leistbaren herangeführt, sie aber auch vor entscheidende Fragen ihres Projekts gestoßen: "Wer sind die? Diese Schüler der Kolonialschule, die Kolonialisten, die Angehörigen der kolonisierten Volksgruppen?" "Wo positioniere ich mich?" "Wie zeichne ich eine Schwarze, ohne in Vorurteilen verhaftet zu bleiben?" "Wem nützt dieses Projekt, das mir gerade so viel Bauchweh macht?"

Der aus Mindmaps, Zeitleisten, Fotos, Artikeln und Comics zusammengefügte Band verströmt eine unverbrauchte Begeisterung, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Gerade in der Vielfältigkeit der Zugänge, der Sichtweisen, Ansatzmöglichkeiten und Fragen weckt er Interesse und Neugier für das Thema.

Fiktive Begebenheiten

Hinzu kommt zum anderen die Methode der "fiktiven historischen Narration", die Fakt und Fiktion miteinander verknüpft, um die Lücken und offenen Fragen bewusst zu markieren oder denkbare Verläufe zu konstruieren. So versammelt der Band Geschichten, Szenen, fiktive Begebenheiten. "Sie alle sind wahr - nicht im Sinne von original, genau so passiert, sondern im Sinne von möglich." Die einzelnen Beiträge sind Bohrungen, wie beispielsweise der Comic über Franz Seelemann, eigentlich Selemani bin Juma, der als afrikanischer Junge nach Deutschland gebracht wurde und auf Umwegen an die Kolonialschule gelangte: "Ob Selemani bin Juma zeit seines Lebens aufgrund nicht zu erfüllender Träume oder unmöglich zu erfüllender Leidenschaften und Liebschaften ein stetes Gefühl der Sehnsucht in sich trug, ist nicht bekannt . . ."

Traurigster Referenzpunkt ist der Genozid an den Hereros und Namas (damals abschätzig als "Hottentotten" bezeichnet) zu Beginn des letzten Jahrhunderts in Deutsch-Südwestafrika, heute Namibia. Dessen Aktualität zeigt sich in den kürzlich an die deutsche Regierung gestellten Forderungen nach Entschädigungszahlungen für die beiden Volksgruppen.

Ganz anders taucht der Comicroman "Arsène Schrauwen" des belgischen Zeichners Olivier Schrauwen in das Thema ein. Obwohl es kaum Zweifel gibt, dass es sich um den Kongo handelt, reist die Hauptfigur mit dem Schiff zunächst an einen "fremden Ort, der ‚Die Kolonie’ genannt wurde", erst gegen Ende des gut 250 Seiten starken großformatigen Comics fällt beiläufig der Name Kongo. "In diesem Buch geht es um meinen Großvater Arsène", verkündet der Autor bereits im ersten Panel. Ob Schrauwens Geschichte tatsächlich etwas mit seinem Großvater zu tun hat, ist belanglos, doch der Hinweis erinnert an Joseph Conrads Satz in "Herz der Finsternis" über seine mysteriöse Hauptfigur Kurtz als Verkörperung kolonialer Gier: "Ganz Europa hatte bei Kurtz’ Entstehung mitgewirkt".

Schrauwen stellt einerseits von Anfang an einen persönlichen Bezug her, andererseits bleibt die Kolonie parabelhaft; die Verantwortung für den europäischen Kolonialismus lässt sich nicht als nationale Angelegenheit irgendeines Landes abtun.

Arsène kommt 1946 auf Einladung seines Vetters in die Kolonie. Doch anstatt in der erhofften Freiheit findet er sich in seinem Bungalow nach einigen Wochen in einer "tristen Gefängniszelle" wieder. "Jetzt war seine Welt nicht größer als der Rand seines Helms." Infiziert mit der Angst, er könnte sich durch einen ominösen "Elefantenwurm" anstecken, schottet er sich ab und hält sich von jedem Tropfen Wasser fern, bis seine Vorsichtsmaßnahme einer radikalen Trockenwäsche nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Trotz seiner Naivität und Ahnungslosigkeit wird Arsène, im Comic wiederholt als Esel dargestellt, in das Projekt "Freedom Town" seines Vetters Roger eingebunden. In seiner "irre[n] Genialität" hat dieser nichts Geringeres vor, als eine Zukunftsstadt zu errichten, die alle beengenden Regeln traditioneller Architektur sprengt. Das erste Wahrzeichen dieser Art trägt den sprechenden Namen "Krempeldenkmal" und spielt freimütig darauf an, wie sehr die Kolonien für Europa als Schrottplatz ungezähmter Ideenauswüchse dienen mussten.

Die Kolonie ist ein paradiesischer Ort der Sehnsüchte, Begierden und Fantasien aller Art. Immer wieder schwappt Schrauwens Geschichte ins Surreale, Traumhafte, Unwirkliche, um dann wieder unvermittelt in eine scheinbar glaubhafte Realität zurückgeholt zu werden. Ein ständiger Wechsel, der auf der Bildebene ein Echo findet: Blau- und rot-monochrome Zeichnungen folgen in einem raffinierten Rhythmus aufeinander. Zuweilen wird die schlichte Grundanordnung der Bildkästchen durch wild über die Seiten wuchernde Panelfolgen gestört. Schließlich lässt Schrauwen in den flächigen Zeichnungen weiße Flecken frei, gleichsam als Angebot für die Leser, sich den eigenen Projektionen zu stellen.

Postkoloniale Wirren

In Birgit Weyhes Comic "Madgermanes" kippen koloniale und postkoloniale Verhältnisse derart ineinander, dass sie im Kopf des Lesers geradezu zu tanzen beginnen. Die deutsche Zeichnerin, die ihre Kindheit in Ostafrika verbracht hatte, hat bei einem Besuch in Mosambik Männer und Frauen getroffen, die in den 1980er Jahren als Vertragsarbeiter in die DDR geholt wurden. Der vorliegende Comic widmet sich dieser kaum bekannten historischen Episode: Statt einer Dokumentation hat die Autorin aus den zahlreichen Interviews drei fiktive Porträts miteinander verflochten und die Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. In den vorangestellten Reflexionen über Erinnerung und Heimat werden bereits die ästhetischen Verfahren des Comics sichtbar: Die Schwarzweißzeichnungen finden sich in einem steten Widerspiel mit der Farbe Braun, die neben ihrer kolorierenden Funktion auch als Zeichenstrich, als Korrektiv, als Kontrapunkt fungiert. Wiederholt verlangsamen poetische Bilder den Erzählfluss.

An die 20.000 Mosambikaner kamen um 1980 als Vertragsarbeiter in die DDR - ein Programm der "Solidarität" zwischen zwei "sozialistischen Bruderstaaten"? "Von wegen!", meint José Antonio im Buch. "Was hatten wir für Pläne . . . !"

Doch in der DDR gab es für sie vor allem viele Regeln und einen Fünf-Jahres-Plan. Entgegen den Erwartungen, dass sie in dem sozialistischen Bruderstaat eine Ausbildung erhalten, die ihnen nach der Rückkehr in ihr Heimatland von Nutzen sein könnte, wurde schnell klar, "dass wir alle nur als Hilfsarbeiter eingesetzt werden". Den Betrieben ohne Mitspracherecht zugeteilt, gelangt Anabella zu "Plaste und Elaste", wo ironischerweise Wärmflaschen produziert wurden. Eine der Regeln lautete, Kontakte mit dem anderen Geschlecht seien unerwünscht, bei Schwangerschaft würde man unverzüglich zurückgeschickt.

Mosambik, das 1975 nach der Nelkenrevolution die Unabhängigkeit von Portugal erlangt hatte, ist bald danach in einen 16-jährigen Bürgerkrieg geschlittert. Auch traumatisierte Opfer dieses Kriegs wie Anabella fanden sich unter den Vertragsarbeitern.

Eine weitere Eigentümlichkeit betraf die Vertragsvereinbarung zwischen den Bruderstaaten: 60 Prozent des Gehalts wurden einbehalten, sollte den Arbeitern nach ihrer Rückkehr ausbezahlt werden. Als 1989 die DDR zusammenbrach, wurden die Verträge mit den Mosambikanern meist gekündigt. Viele waren gezwungen, in ihre kriegszerrüttete Heimat zurückzukehren, um dort zu erfahren, dass die ihnen zustehenden, ersparten Gehälter nirgends aufzufinden wären. Wohin ist das Geld verschwunden? Hat die DDR es nie überwiesen? Hat die BRD es stillschweigend eingestrichen? Oder ist es durch Korruption von der mosambikanischen Regierung verschluckt worden?

Bei all der bitteren Einzigartigkeit des Schicksals blitzen in den Erzählungen der mosambikanischen Arbeiter Parallelen zu anderen Gruppen auf. Die Vorstellungen, die die DDR von den angeworbenen Arbeitern hatte, erinnern an die Illusionen, die westliche Länder ihren Gastarbeitern gegenüber hegten: Dass sie lediglich zum Arbeiten, nicht zum Leben hierhergekommen wären. Obwohl für mosambikanische Verhältnisse komfortabel, wurden die Arbeiter in abgelegenen Wohnheimen untergebracht, wie das häufig von Flüchtlingsheimen bekannt ist. Integration und Austausch waren unerwünscht. Dass viele sich trotz diverser Vorbeugemaßnahmen mit deutschen Frauen und Männern angefreundet haben, dokumentieren die Geschichten voller Witz und Ironie.

Doch auch in der DDR waren die Gastarbeiter aus dem sozialistischen Bruderstaat Alltagsrassismen ausgesetzt, Pöbeleien, die nach dem Mauerfall massiv zunahmen. Tatsächlich erinnert die offenbar jeder Grundlage entbehrende Missgunst, von der Basilio im Comic berichtet, an gegenwärtige Neiddebatten im Zusammenhang mit Flüchtlingen: "Denen wird doch sowieso alles in den Arsch geschoben!"

Schwarze Seiten

Als Anabella erfährt, was ihren Geschwistern im Krieg Schreckliches widerfuhr, bricht sie zusammen. Um den Bruch zu markieren, hält der Comic an: mit leeren schwarzen Seiten. Wie kann man den Schmerz, die Verzweiflung in einem Comic darstellen? Zeichnungen bestehen nur aus Strichen, die sich aus Punkten zusammensetzen: Doch wenn sich eine Figur im Lauf einer Seite auflöst und in ein Häufchen Punkte zerfällt, dann vermittelt das ein starkes Sinnbild der Ohnmacht.

Dennoch ist es Anabella, der es in Weihes Comic mit Hilfe einer verständnisvollen Ärztin gelingt, schließlich aus dem Vertragsdasein mit Ablaufdatum zu entkommen und sich in Deutschland eine Zukunft aufzubauen - während die "Madgermanes", wie sie sich selbst ironisch bezeichnen, die "Made in Germany"-Mosambikaner, in ihrer Heimat mühselig versuchen, ihre Rechte einzufordern. Weyhe hat mit ihrem ästhetisch herausragenden Comic ein ebenso einfühlsames wie vielschichtiges Bild dieser postkolonialen Geschichte gezeichnet.

Raus Rein.Texte und Comics zur Geschichte der ehemaligen Kolonialschule in Witzenhausen. Hrsg. v. M. Hulverscheidt / H. Dorgathen. avant-Verlag, Berlin 2016

Olivier Schrauwen:Arsène Schrauwen.Reprodukt, Berlin 2016.

Birgit Weyhe,Madgermanes. avant-verlag, 2016.

Martin Reiterer, geboren 1966, Germanist und Kulturpublizist, lebt in Wien und befasst sich speziell mit dem Medium Comic.