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Neue Chancen und Denkanstöße

Von Ingrid Korosec

Gastkommentare

Die Rückkehr zur Normalität ist eigentlich ein Aufbruch in eine andere Normalität.


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"Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen, es muss anders werden, wenn es gut werden soll." Dieser Satz des deutschen Philosophen Georg Christoph Lichtenberg sollte bei allem Nachdenken über die angestrebte Normalität nach Corona beherzigt werden. Wir wünschen uns alle wieder ein normales Leben also jene Selbstverständlichkeit zurück, die nicht mehr erklärt und über die nicht mehr entschieden werden muss, ein Dasein, in dem die Grundregeln nicht mehr immer neu verhandelt werden. Denn bereits die erste Lehre muss sein, dass es keinen Weg zurück in die gewohnte Normalität geben kann und vor allem nicht geben soll. Auch wenn der erste Reflex uns verleitet, in das Gewohnte und Bekannte zurückkehren zu wollen - unser Leben vor Corona führte uns direkt in die gegenwärtige wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise.

Die Pandemie macht latent vorhandene und oftmals bereits diskutierte Problem- und Bruchstellen des bestehenden Konzeptes deutlich sichtbar: Globale, sich mehrfach kreuzende Produktions- und Lieferketten, Vergabe systemrelevanter Produktionen an den Billigstbieter, sich überwiegend an quantitativen Kriterien orientierende Tourismusbetriebe und Kulturinstitutionen, wirtschaftliche und soziale Ungleichheit in der Gesellschaft, die erstaunlich schnell aufklafft. Andererseits legten die Menschen in der Corona-Krise Fähigkeiten wie Solidarität, Flexibilität, Anpassungsfähigkeit an geänderte Rahmenbedingungen und - auch wenn der Begriff altmodisch klingen mag - Pflichtbewusstsein in unerwartetem Ausmaß an den Tag.

Angst darf nicht bestimmen

Daraus keine andere Normalität zu schaffen, wäre eine grobe Fahrlässigkeit, schlimmer noch, eine verpasste Chance. Doch nicht die Angst vor der Krankheit darf die Normalität danach bestimmen. Es geht nicht um die Überwindung von Covid--19, sondern um eine langfristige Strategie, wie sich die Gesellschaft so organisiert, dass sie in einer weiterhin globalen Vernetzung weniger vulnerabel wird. Zu versuchen, sich gegen eine neue Pandemie zu wappnen, reicht nicht und greift viel zu kurz. Es krankt im System. Eine Art Stärken-Schwächen-Analyse aller seit Ende Februar gesammelten Daten und Erfahrungen tut not. Über Stärken und Schwächen des bestehenden Modells wurde bereits umfassend diskutiert.

Zwei Stärken sollen hier jedoch noch explizit genannt werden, da sie eine gute Basis für die Bekämpfung der Pandemie boten, in den öffentlichen Diskurs jedoch kaum Eingang fanden: Das österreichische Gesundheitssystem bietet (bei allem unbestrittenen Verbesserungspotenzial) fast allen Menschen im Land ausreichend Zugang zu medizinischen Leistungen, die Sterblichkeit aufgrund behandelbarer Ursachen ist prinzipiell gering und das Armutsrisiko liegt deutlich niedriger als in anderen EU-Ländern.

Wie soll Mobilität aussehen?

Wie der Weg nach der Krise aussieht, hängt nicht allein davon ab, wie viel Geld in welche Bereiche gepumpt wird. Wirtschaftlich kann ein reiches Land wie Österreich die Situation bewältigen, auch wenn das erstrebte Nulldefizit dadurch in weite Ferne rückt. Doch muss auch hier die Chance genutzt werden, die Wirtschaft anders zu gewichten. Corona drängte die Klimakrise zwar momentan in den Hintergrund, darf sie jedoch nicht langfristig verdrängen. Eine neue wirtschaftliche Normalität muss Überlegungen dazu beinhalten. Wenn Geld in die Hand genommen werden muss, dann mit nachhaltigem Effekt.

Es geht darum, einen Konsens über neue gesellschaftliche Ziele zu finden und festzulegen, wohin uns diese gewaltige Anstrengung bringen soll, also wie diese neue, andere Normalität konkret aussehen soll. "Weiter wie bisher" ist im Hinblick auf die mittel- und langfristigen Folgen nicht vertretbar. Die Krise bietet Chancen, Probleme, die bereits seit langem auf eine Lösung drängen, innovativ zu bekämpfen. Es zeigt sich, dass die Menschen auch tiefgreifende Veränderungen mittragen, sofern deren Notwendigkeit nachvollziehbar ist. Durch die Krise wurden Denkprozesse angestoßen, die weiterentwickelt und zu Ende geführt werden sollten. Wohin es gehen muss, zeigen bereits einige Schlaglichter:

Wie viel Mobilität ist geschäftlich und privat nötig und wünschenswert? Das Reiseverhalten änderte sich praktisch von einem Tag auf den anderen. Tele-Arbeit und Videokonferenzen ersetzten Geschäftsreisen. Welche Branchen und Berufe sind tatsächlich systemrelevant? Erhalten Mitarbeiterinnen in Pflege, Betreuung, Handel oder Erhalt der Infrastruktur ihrer Wichtigkeit entsprechende Löhne und Anerkennung? Die nun ständig genannten Berufe zur Sicherstellung der Versorgung und Infrastruktur rangieren eher am unteren Ende der Gehaltspyramide. Selbst die überlebensnotwendigen Gesundheitsberufe gehören nicht zu den Top-Verdienern. Ärzte dürfen sich aber im Gegensatz zu anderen Systemerhaltern zumindest über ein hohes gesellschaftliches Prestige freuen, was für Kassiererinnen oder Reinigungskräfte bisher nicht galt.

Wer sichert die Versorgung, wenn Transportketten reißen? Mit Ausnahme von Öl kann sich Österreich mit Lebensmitteln halbwegs selbst versorgen. Ohne chemischen Dünger aus China oder Indien funktioniert unsere Landwirtschaft jedoch nicht. Die große Abhängigkeit von Asien und die damit verbundenen Gefahren zeigten sich ebenso bei Medikamenten, Desinfektionsmitteln und medizinischer Schutzkleidung. Hier reagierten österreichische Firmen erstaunlich rasch. Die neugegründete Hygiene Austria LP GmbH plant nach eigenen Angaben, 25 Millionen Masken pro Monat zu produzieren.

Wer schafft Wohlstand? Fast 50 Prozent des BIP entfallen auf Konsumausgaben. Die Kaufkraft privater Haushalte ist ausschlaggebend fürs Überleben zahlreicher Branchen. Laut Agenda Austria wird die exportorientierte Industrie die Nachwirkungen der Krise besonders lange spüren. Dem einheimischen Konsum kommt damit eine noch stärkere Bedeutung zu, aber nur ein entsprechendes Lohnniveau gibt den Menschen die Möglichkeit zu konsumieren.

Es liegt an jedem Einzelnen

Braucht es ein tragfähiges soziales Netz und Solidarität zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen? Der Zusammenhalt zwischen den verschiedenen Gruppen der Bevölkerung inner- und außerhalb der staatlichen Strukturen ist essenziell und, wie sich zeigte, möglich. Spontan entstanden von den Bürgern initiierte und getragene "grass root"-Projekte zur gegenseitigen Unterstützung. Dass sich Ungleichheiten in Krisen schnell verstärken, bewies plakativ der Schulbereich, wo nun soziale und wirtschaftliche Gräben unübersehbar aufklaffen. Im Augenblick sind rund 580.000 Menschen arbeitslos, mit mehr als 12 Prozent der absolute Höchststand nach 1946, für weitere 1,1 Millionen ist Kurzarbeit beantragt. Dass ein tragfähiges soziales Netz weiterhin nicht verhandelbar sein sollte, wurde damit zahlreichen Menschen schlagartig klar.

An jedem Einzelnen liegt es, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen und im Alltag umzudenken, an der Politik, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Vieles, was vor einigen Wochen noch als unmöglich galt, ist heute Realität. Diesen Impetus gilt es zu nutzen, damit eine neue Normalität entsteht. Normal muss neu definiert werden, normal muss neu gelernt werden. Einen Weg zurück gibt es nicht, denn "es muss anders werden, wenn es gut werden soll". Ich wünsche mir eine Normalität des solidarischen Miteinanders, des bewussten, regionalen Konsums und des Nachdenkens, was es für ein glückliches Leben braucht.