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Neue Euro-Freunde aus dem Norden

Von Peter Muzik

Wirtschaft

Der einstige Tiger hofft auf den Euro. | BIP und Exporte haben sich 2010 wieder erholt. | Arbeitslosenrate und Inflation sind nicht im Griff. | "Estonia: Welcome on the Titanic." Solche Transparente trübten in der Hauptstadt Tallinn den Jubel über die Einheitswährung beträchtlich. Estland trat am 1. Jänner als 17. Staat der Eurozone bei. Auch wenn sich laut Umfragen lediglich 52 Prozent der 1,3 Millionen Esten darüber freuen, hat die Regierung unter Premierminister Andrus Ansip ihr vorrangiges Ziel erreicht. EU-Währungskommissar Olli Rehn sprach von "einer gerechten Belohnung für ein Land, das sich einer soliden Haushaltspolitik verschrieben hat".


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Tatsächlich kann Estland auf einen annähernd ausgeglichenen Staatshaushalt und geringe öffentliche Schulden stolz sein - trotz der Berg- und Talfahrt im vergangenen Jahrzehnt. Die winzige Republik im Baltikum, die nach dem Zweiten Weltkrieg ins Sowjet-Imperium eingegliedert worden war und im August 1991 die Unabhängigkeit erlangte, wurde 2004 sowohl EU- als auch Nato-Mitglied.

Seit damals war es oberstes Ziel der estnischen Politik, die Maastricht-Kriterien zu erreichen und raschestmöglich der Währungsunion beizutreten. "Dass Estland heute wirtschaftlich so gut dasteht", sagte Staatspräsident Toomas Hendrik Ilves unlängst, sei "das logische Ergebnis dieses konsequenten Kurses".

Der Ex-Tiger ist zum Bettvorleger geworden

Immerhin befindet sich die konservativ-nationalistische Regierung in der komfortablen Lage, das Land als Europas Musterschüler verkaufen zu können: Mit einer Staatsverschuldung von 1,134 Milliarden Euro liegt es am untersten Ende der Schuldenpyramide. Finanzminister Jürgen Ligi, der in Estland als "Mister Euro" gilt, will das Haushaltsdefizit 2011 auf 1,6 Prozent des BIP - also rund 300 Millionen Euro - senken. Selbst im Krisenjahr 2009 haben die Staatsschulden bloß 7,2 Prozent ausgemacht, ein gewaltiger Erfolg: In fast allen anderen EU-Mitgliedstaaten - inklusive Österreich, Niederlande, Frankreich und Deutschland - liegt dieser Wert weit über der magischen 60-Prozent-Marke.

Der eiserne Sparkurs ist allerdings im Hinblick auf die nächsten Parlamentswahlen im März in Gefahr: Die Opposition, allen voran die Zentrumspartei, hat bereits gedroht, ihn im Falle eines Wahlsiegs abschwächen zu wollen - obwohl der Internationale Währungsfonds (IWF) das Land vor kurzem zum strikten Festhalten am geplanten Sparprogramm aufforderte. Der IWF sieht nämlich nach wie vor eine Reihe von Risikofaktoren für das Land.

Vorteile durch Euro trotz Schuldenkrise

Premierminister Ansip und seine Reformpartei halten die Euro-Einführung trotz der europaweiten Schuldenkrise genauso wie die estnische Notenbank für einen wichtigen Schritt zur Wiederherstellung des Vertrauens der internationalen Investoren - und obendrein zur Förderung der estnischen Konjunktur.

Die baltische Republik, die sich dank der Hochkonjunktur bis 2007 den Beinamen "Tigerstaat" sichern konnte, lag nämlich plötzlich am Boden, einem Bettvorleger nicht unähnlich. Vor zwei Jahren ist die estnische Wirtschaft in eine tiefe Rezession geschlittert: Das Wachstum sackte 2009 gleich um 13,9 Prozent ab, die Arbeitslosenrate kletterte auf 13,7 Prozent.

Die Warenexporte brachen um 24 Prozent ein, die Einfuhren schrumpften um 33 Prozent. Lediglich die Inflationsrate, die auf Grund der überhitzten Konjunktur im Jahr 2008 den Spitzenwert von 10,6 Prozent erreicht hatte, bot keinen Anlass mehr zur Besorgnis: Wegen der rückläufigen Nachfrage ist sie rasant auf 0,2 Prozent gesunken.

Im Vorjahr gelang sodann die erhoffte Trendwende halbwegs, wenn auch nicht hundertprozentig. Der Aufschwung wurde primär vom Außenhandel, der einstmals auf Russland fokussiert war, getragen: Im ersten Halbjahr 2010 nahmen die Exporte um 22, die Importe um 20 Prozent zu. Im dritten Quartal betrug das Plus sogar jeweils mehr als 30 Prozent, wobei Estland neuerdings bereits zwei Drittel seiner Aus- und vier Fünftel der Einfuhren mit den EU27-Ländern abwickelt.

Auch die Kontakte mit Österreichs Firmen sind wieder intensiver geworden (siehe Kasten). Das Bruttoinlandsprodukt ließ ebenfalls eine deutliche Aufwärtstendenz erkennen: Das Wirtschaftswachstum betrug laut EU-Statistiken im ersten Quartal 1, im zweiten 1,9 und im dritten Jahresviertel 0,7 Prozent. Finanzminister Ligi dämpfte indes allzu optimistische Erwartungen: "Wir haben unsere Lektion gelernt, wir werden verhindern, dass unsere Wirtschaft abermals zu heiß läuft."

Prognosen für 2011 wurden schlechter

Positiv wurde registriert, dass die Investitionen im Inland zuletzt ebenso zunahmen wie die privaten Konsumausgaben, die nach heftigen Rückgängen in der Krise etwa im dritten Quartal um 0,7 Prozent stiegen. Auch bei den Durchschnittsgehältern war im genannten Zeitraum gegenüber dem Vorjahr ein Plus von 0,9 Prozent zu verzeichnen. Großer Wermutstropfen: Die Zahl der Beschäftigten nahm im Zeitraum Juli bis September um 3,3 Prozent auf 578.000 ab.

Die bedrohlich steigende Arbeitslosigkeit ist Estlands größtes Problem. Hatte die Quote 2009 noch durchschnittlich 13,8 Prozent betragen, so pendelte sie im vergangenen Jahr zwischen 19 Prozent (im Jänner) und 16,2 Prozent (im September). Europaweit lag das Land mit 106.000 Joblosen im dritten Quartal schlechter als 20 andere EU-Mitgliedstaaten und konnte nur die Nachbarn Litauen und Lettland und Spanien überflügeln.

Auch mit einer Inflationsrate, die 2010 vor allem wegen der exorbitant gestiegenen Benzin- und Strompreise von 1,4 (im März) auf 5 Prozent (im November) emporschnellte, liegen die Esten (knapp vor den Rumänen) EU-weit unter ferner liefen.

Die estnische Notenbank hat überdies kürzlich dem aufkeimenden Optimismus, dass die Wirtschaft die Krise endgültig abschütteln könne, einen Dämpfer versetzt. Knapp vor Jahresende revidierte sie die bisherigen Prognosen: Laut neuesten Schätzungen wird die Inflation im heurigen Jahr 3,5 (und nicht wie ursprünglich angenommen 2,7) Prozent betragen und die Wirtschaft lediglich um 3,9 (statt der erwarteten 4,2) Prozent wachsen.

Österreicher in Estland

Rot-weiß-rote Direktinvestitionen in Estland betrugen Ende 2009 127 Millionen Euro, etwa ein Prozent der ausländischen Investments. Für die meisten sorgen Schweden und Finnen, gefolgt von Niederländern und Russen. Von den Österreichern rangiert der Papierindustrielle Alfred Heinzel mit Estonian Cell weit vorne, der 2006 in Kunda eine Zellstofffabrik mit jährlich 150.000 Tonnen Kapazität eröffnet hat.

Mit Produktionsbetrieben sind auch Greiner Packaging und der Ziegelkonzern Wienerberger in Estland vertreten. So gut wie alle haben zuletzt harte Zeiten durchgemacht, was dazu führte, dass etwa die Treibacher Industrie ihre 25 Prozent an der defizitären Silmet AS auf mehr als die Hälfte reduzierte. Trotzdem engagieren sich viele Unternehmen weiterhin: Die in österreichischem Familienbesitz befindliche ungarische Tisza Textil erwarb im Dezember den angeschlagenen Mitbewerber Uritus, um die Produktion ihrer Minibags anzukurbeln.

Die Wiener Städtische, die 2007 Seesam Life gekauft hat, glaubt ebenfalls an Estlands Zukunft und der Gumpolds kirchner Glücksspielkonzern Novomatic ist mit Automaten-Casinos längst Marktleader. Mit Vertriebsniederlassungen beackern etliche Unternehmen den estnischen Markt, darunter die Tiroler Eglo Leuchten, der Kristall-Spezialist Swarovski und die Amstettner Umdasch/Doka-Gruppe. Großaufträge gibt es von Zeit zu Zeit für Exportkaiser wie den Grazer Anlagenbauer Andritz oder die auf Weichen spezialisierte Voestalpine-Tochter VAE.

Österreichs Exporte hatten 2005 die Rekordmarke von 237 Millionen Euro erreicht, waren zuletzt aber dramatisch eingebrochen. Im Vorjahr gab es wieder ein Plus - von Jänner bis Oktober 2010 33,8 Prozent. Wichtigste Ausfuhrprodukte sind Arzneimittel, Elektrogeräte, Stromverteiler, landwirtschaftliche Maschinen, Pumpen, isolierte Drähte und Kabel, synthetische Fasern sowie Bleche. Eingeführt werden hauptsächlich Polyester, Schnittholz, anorganische Chemikalien, Bettwaren, Milch und Milchprodukte sowie orthopädische Apparate.

Fakten zu Estland

Staatsform: Republik
Fläche: 45.227 km 2
Einwohner: 1,35 Mill.
Amtssprache: Estnisch
Hauptstadt: Tallinn
Währung: Euro (seit 2011)
BIP (laufende Preise, 2009): 13,8 Milliarden Euro
BIP pro Kopf: 10.000 Euro
BIP-Wachstum 2010: +1,5 Prozent
Arbeitslosenrate (3. Quartal 2010): 15,5 Prozent
Inflation 2010: 2,7 Prozent
Exporte 2009: 6,5 Milliarden Euro (minus 24 Prozent)
Importe 2009: 7,3Milliarden Euro (minus 33 Prozent)
Handelsbilanzdefizit 2009: 824 Millionen Euro
Haupt-Handelspartner: Finnland, Schweden, Deutschland, Russland, Litauen, Lettland, Niederlande, Norwegen
Ausländische Direktinvestitionen (Bestand Ende 2009): 11,26 Milliarden Euro
Wichtigste Investoren: Schweden, Finnland, Niederlande und Norwegen (Österreich auf Rang 16)

Quellen: Eesti Pank (Nationalbank Estland), Statistics Estonia, AWO-Wirtschaftsreport vom November 2010