Welche Art von Denkmälern brauchen Demokratien? Beispielhafte Konzepte und Reflexionen - ein Rundgang.
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Weltweit haben Denkmalstürze die Frage aktualisiert, wer in Demokratien als denkmalwürdig gilt - und wer in unseren steingewordenen Erinnerungslandschaften fehlt. Die Diskussion um Denkmäler hat viele überrascht, schien das Genre durch seinen Missbrauch durch totalitäre Regime doch obsolet und im digitalen Zeitalter gänzlich überholt. Doch das Bedürfnis nach Denkmälern ist ungebrochen.
Gegendenkmäler
Was mit den als problematisch erachteten Denkmälern geschehen soll, ist in der Tat eine für Demokratien relevante Frage. Die auf uns gekommenen Zeugnisse der Vergangenheit gilt es nicht nur zu konservieren. Die Mehrheit der existierenden Denkmäler spiegelt Wertvorstellungen längst vergangener Epochen wider. Wie Generationen vor uns haben wir das Recht, und die Verpflichtung, diese Welt zu gestalten. Aber welche Art von Denkmälern brauchen Demokratien? Beide Aspekte, die Denkmalstürze und neue Denkmalsetzungen, sagen etwas darüber aus, wer wir als Gesellschaft sind oder werden wollen.
Interessanterweise regenerierte sich das Genre gerade dadurch, dass es sich mit dem Holocaust und anderen Menschheitsverbrechen auseinandersetzte. Dies führte in den letzten 40 Jahren zu unzähligen Denkmalsetzungen. Statt militärischer Siege waren es nun die Verbrechen der eigenen Nation, die als erinnerungsnotwendig angesehen wurden. In Deutschland entstanden in den späten 1980er Jahren die, wie James E. Young es nannte, Gegendenkmäler. Diese wandten sich gegen sich selbst, verzichteten auf den Anspruch auf Dauer und Sichtbarkeit.
Die radikale Infragestellung des Denkmals führte zu neuen formalen Lösungen, die wiederum zur Demokratisierung des Genres beitrugen. Als Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz ihr Mahnmal gegen Faschismus 1986 in Hamburg-Harburg errichteten, sollte der Obelisk durch Beschreiben nach und nach im Boden versinken und damit der Unsichtbarkeit überlassen werden. Im Zentrum stand die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Wie es die Künstler formulierten: Am Ende kann uns kein Denkmal die Denkarbeit abnehmen - es kommt auf uns an.
Die Zeit des Gegendenkmals ist vorbei. Sie hat aber das Genre entscheidend geprägt. Moderne Denkmalsetzer sind sich dieser Tradition bewusst, der Notwendigkeit eine Form zu finden, die immer wieder aufs Neue zum Gedenken und Nachdenken einlädt. Doch wenden sie sich nicht länger gegen das Genre selbst, sondern erfinden es neu. Wie Christoph Mayer, der 2007 mit seinem Das Unsichtbare Lager - Audioweg Gusen das Denkmal entmaterialisierte. Sein Werk besteht aus einer Toncollage, die mittels eines MP3-Spielers abrufbar ist. Diese führt durch Langenstein, Gusen und St. Georgen in Oberösterreich, wo sich das Konzentrationslager Gusen befand. Während das nahe gelegene KZ Mauthausen in eine Gedenkstätte umgewandelt wurde, entstand hier in der Nachkriegszeit eine beschauliche Wohnsiedlung.
Mayers Audioweg macht die Gehenden selbst zu temporären, mobilen Denkmälern. Jedes Mal, wenn jemand den MP3-Player beim Memorial Gusen ausleiht und durch die Ortschaften geht, tritt die Denkmalfunktion in Kraft: Das Gehen wird zum Statement, zum zeitweiligen Erinnerungszeichen, das die Menschen vor Ort stets aufs Neue ans Gedenken erinnert.
Gedeckter Tisch
Das demokratische Denkmal überdenkt nicht nur, wer oder was erinnert werden soll, sondern auch wie dies geschieht. Im traditionellen Denkmal ist der Held den Betrachtenden entrückt. Die Dichter und Denker, denen wir Bewunderung zollen sollen, befinden sich auf hohen Sockeln. Sie erschließen sich uns erst, wenn wir uns im gebührenden Abstand zu ihnen befinden. Dabei ist die eingeforderte Distanz bereits durch großflächige Blumenbeete angelegt. Ein Interagieren ist weder möglich noch gewünscht.
Ein Austausch der Personengalerie reicht daher allein nicht aus. Frauen statt Männer auf den Sockel zu erheben, bleibt 2022 unbefriedigend, wenn dies in einer Formensprache geschieht, die auf überkommenen Wertvorstellungen ruht.
Seit 2018 lädt Françoise Schein uns ein, an ihrem Wiener Bankett der Menschenrechte und Ihrer HüterInnen Platz zu nehmen. Auf handbemalten Kacheln finden sich Teller, darauf die 30 Artikel der UN-Menschenrechtsdeklara-tion von 1948. Trotz naiv anmutender Einrahmung des gedeckten Tisches in eine stilisierte Donaulandschaft verweisen Titel und ein riesiges rotes Fragezeichen am Boden darauf, dass wir nicht nur Rechte haben, sondern es auch an uns ist, diese zu hüten.
In Sichtweite davon befindet sich ein weiteres Denkmal. Es gedenkt dem in Abschiebehaft durch Polizeigewalt erstickten Nigerianers Marcus Omofuma. Das Werk war ursprünglich eine Guerilla-Aktion vor der Staatsoper. Der dunkle Stein mit seinen Stapelungen und Einritzungen löst Beklemmungen aus. Wer darf Platz nehmen am gedeckten Tisch, wem bleiben die Menschenrechte verwehrt?
Demokratie ist Arbeit. Dieses Denkmalensemble honoriert für uns wichtige demokratische Werte, verweist aber gleichzeitig auf die Fehlbarkeit der Demokratie und damit auf ihr wichtigstes Grundprinzip: den Dissens.
Bruch mit Konventionen
Das Nachdenken über Denkmäler in heutigen Demokratien ist auch deshalb so wichtig, weil es dazu einlädt, darüber nachzudenken, was Demokratie ist: eine Staatsform, die erlernt werden muss. Das Wesen der Demokratie ist, dass sie stets im Werden ist.
Als Kunstwissenschafterin möchte ich das Zusammenspiel von Thema und Gestaltung betonen: die Platznahme durch die Menschenrechte geht einher mit dem Angebot des Platznehmens und damit der Einladung zur aktiven Teilhabe und Reflexion. Scheins Denkmal ist lange nicht mehr so strahlend schön wie bei seiner Einweihung. In Anbetracht des Krieges in der Ukraine erhalten seine Abnutzungserscheinungen jedoch eine neue Qualität. In Putins Russland werden Denkmäler, die zur kritischen Reflexion aufrufen, nicht errichtet.
Moderne Denkmäler brechen mit etablierten Denkmalkonventionen und spiegeln neue Wertvorstellungen wider. Die formalen Folgen eines gewandelten Heldenverständnisses veranschaulicht Kirsten Ortweds Wallenberg-Denkmal in Stockholm. Ohne Zweifel will die dänische Künstlerin den Schweden Raoul Wallenberg, der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zur Rettung der Budapester Juden beigetragen hat, ehren. Darauf verweist bereits der Titel: Hommage à Raoul Wallenberg.
Doch ansonsten stellt Ortwed alles auf den Kopf. Allein mit der Ablehnung der Vertikalität, die für traditionelle Personendenkmäler charakteristisch ist, weicht sie vom tradierten Formenrepertoire ab. Sie platziert ihre zwölf abstrakten Skulpturen sowie Wallenbergs Signatur direkt auf den Boden. In ihrer Materialwahl ist sie durchaus traditionell und hält mit der Bronze an dem Anspruch des herkömmlichen Denkmals auf Dauer fest. Aber sie kehrt die Situation komplett um: Wir sind die vertikalen Begehenden des am Boden liegenden Denkmals - und werden somit aufgefordert, Denkarbeit zu leisten.
Wichtig ist das Zusammenspiel der Skulpturen mit dem umgebenden Stadtraum: der Synagoge als Referenz für diejenigen, denen Wallenberg zur Hilfe kam; das Wasser in der angrenzenden Bucht als Metapher für Freiheit. Die Signatur am Boden ist nur lesbar, wenn man sich mit dem Rücken zum Wasser stellt, was darauf verweist, dass Wallenberg in Gefangenschaft geriet und ermordet wurde.
Dieses Werk fordert uns einiges ab. Wir müssen uns einlassen auf die Form und den umgebenden Stadtraum, müssen Vorwissen mitbringen, um assoziativ die Botschaft des Denkmals verstehen zu können. Begehen, Assoziieren, Aktivieren oder Aneignen von Wissen - all das verweist auf ein gewandeltes Verständnis davon, was von Menschen in der Demokratie erwartet wird: Engagement, Bereitschaft zur Empathie und Wissensaneignung, Mitdenken, kritisches Reflektieren.
Einen Helden blind zu bewundern kann kaum Zielsetzung eines demokratischen Denkmals sein. Aber auch demokratische Denkmäler verbleiben didaktisch. Doch ihr pädagogischer Impetus unterscheidet sich grundlegend vom etablierten Denkmal. Denn statt einer postulierten Wahrheit, die einem Ausrufungszeichen gleich den Raum dominiert, bieten sie Denkanstöße, verstören, regen zum Nachdenken an - wie es das Fragezeichen in Françoise Scheins Wiener Denkmal, etwas plakativ, symbolisiert.
Während Ungewissheit und Meinungsverschiedenheiten zur Demokratie dazugehören, verstehen moderne Denkmalschaffende, dass das alleine nicht ausreicht. Genauso müssen demokratische Gesellschaften positive Identifikationsangebote anbieten. Diesen Aspekt illustriert zum Beispiel der Prinzessin-Diana-Gedächtnisbrunnen im Hyde Park in London, der 2004 von Kathryn Gustafson und Neil Porter entworfen wurde.
Er gedenkt der "Königin der Herzen" als lebensfrohem Menschen, der sich um Kinder verdient gemacht hat. Deshalb geht es hier auch laut und lebhaft zu. Londoner und Touristen genießen das Spiel im Wasser, sitzen in der Sonne und picknicken.
Die Beispiele in Stockholm und London verbindet, dass sie Menschen ermöglichen, am Denkmal aktiv teilzuhaben. Ohne ihr Interagieren erschließt sich die Bedeutung der Werke nicht. Dabei ist der emotionale Zugang genauso wichtig wie der kognitive. Auch wenn Ortweds Hommage 20 Jahre nach der Errichtung den einen oder anderen noch verwirren mag, hat sich die anfängliche Aufregung gelegt und ein erweitertes Denkmalverständnis die Akzeptanz des Werks befördert.
Es gibt eine ganze Reihe von Akteuren, die Denkmäler aktiv nutzen, um sich gesellschaftspolitisch einzumischen, wie etwa die Equal Justice Initiative mit ihrem The National Memorial for Peace and Justice, einem Meilenstein in der Denkmalgeschichte. Während diese NGO seit mehr als 30 Jahren für die Abschaffung der Todesstrafe in den USA kämpft, eröffnete sie 2018 ein Museum und einen Gedenkpark in Montgomery, Alabama, um die anhaltenden Nachwirkungen der Sklaverei wirksam im amerikanischen Bewusstsein zu verankern.
Doppelte Existenz
The National Memorial for Peace and Justice existiert zweifach. Einmal eingebunden in einen an Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie in Berlin erinnernden Pavillon. Hier begegnet man den Stelen für die Opfer der Lynchjustiz zunächst auf Augenhöhe. Nach und nach senkt sich der Boden und die Stelen hängen über einem wie einst die Ermordeten an Bäumen. Und zum Zweiten befinden sich vor dem Denkmal Duplikate der Stelen. Aufgebahrt wie Särge, warten sie darauf, von den Gemeinden, in denen der Lynchmord einst stattgefunden hat, eingefordert und am Ort des Geschehens aufgestellt zu werden.
Konzeptuell angelehnt an Günter Demnigs Stolpersteine, imaginiert dieses Denkmal in seiner doppelten Existenz eine noch bevorstehende Umgestaltung der amerikanischen Erinnerungskultur. Stele für Stele wird ergänzt, was in der Gedenklandschaft bisher fehlt. Dieses Denkmalkonzept verdeutlicht: Kein einziges Denkmal - so beeindruckend es auch sein mag - kann alleine eine Gedenkkultur verändern. Statt das Denkmal als Endpunkt einer Debatte zu verstehen, veranschaulicht der Prozess der Einforderung und Errichtung der 805 Duplikate, dass Aufarbeitung Zeit braucht.
Bisher werden solche offenkundigen Verbindungen zwischen demokratischen Ideen und Denkmalschaffen noch wenig beachtet. Und obwohl das Denkmal auch in der Demokratie Ausdruck der Machthabenden bleibt, so haben sich die Machtverhältnisse doch grundlegend geändert. Das zeigt sich auch daran, dass es nun sogar dem Staat gegenüber kritische Künstlerkollektive sind, die sich dem Denkmal zuwenden - wie etwa das Zentrum für Politische Schönheit mit Deine Stele.
Diese Kunstaktion besteht aus 24 verkleinerten Stelen von Peter Eisenmans Denkmal für die ermordeten Juden Europas von 2005. Die Duplikate befinden sich seit 2017 auf dem Nachbargrundstück von Björn Höckes Haus im Thüringischen Bornhagen. Dieser bekannte Vertreter der rechtsex-tremen Alternative für Deutschland (AfD) hatte Eisenmanns Werk als "Denkmal der Schande" bezeichnet und sich damit der Staatsräson, den Holocaust für alle Zeiten zu erinnern, entgegengestellt. Daraufhin setzte ihm das "Zentrum" das Berliner Denkmal en miniature vor die Nase.
Seit sieben Jahren darf sich Höcke bei jedem Blick aus dem Küchenfenster an die von Deutschen verantworteten Schandtaten erinnern. Die große finanzielle Unterstützung aus der Bevölkerung gibt dem Projekt seine Legitimität und sichert sein Bestehen.
Für das Zentrum für politische Schönheit ist es das Hauptanliegen von Kunst, im öffentlichen Raum zum kritischen Nachdenken anzuregen. Das Mittel der Provokation wird dabei bewusst eingesetzt, um eine breite Me-dienwirksamkeit zu erzielen. Es soll zum Nachdenken angeregt werden, wie jenen begegnet werden kann, die die Demokratie mit demokratischen Mitteln zu demontieren beabsichtigen.
Demokratische Denkmalsetzungen sind kein Phänomen unserer Zeit. Bereits die erste Denkmal-"Flut" in den 1880er Jahren zeigte Demokratisierungstendenzen. Dem erstarkenden Bürgertum war es nun, auch wegen erschwinglicherer Produktionskosten, möglich, sich selbst Denkmäler zu errichteten. Den besten Bäcker der Stadt mit einem Denkmal zu ehren, wird heute gerne als Beweis für inflationäre Denkmalsetzungen angeführt, es kann aber genauso gut als Streben nach erweiterter Repräsentation verstanden werden - nicht unähnlich gegenwärtigen Bemühungen, marginalisierten Gruppen endlich Platz im öffentlichen Raum einzuräumen.
Auch Denkmalformen, die ein neues Betrachterverhältnis einforderten, haben eine längere Vorgeschichte. Bereits 1922 platzierte Walter Gropius sein abstraktes Denkmal für die Märzgefallenen direkt auf den Boden. 1936 rissen es die Nazis ab. Eine Entwicklung war unterbrochen. Spätestens mit dem Auftreten der ersten Gegendenkmäler vor rund 40 Jahren ist aber ein grundlegender Wandel im Denkmalverständnis eingetreten.
Wandelbares Genre
In Ermangelung eines besseren Begriffsapparats plädiere ich dafür, unser Verständnis von Denkmälern der gelebten Realität anzupassen und dem Genre seine Wandelbarkeit zuzugestehen. Mir geht es nicht darum, das Denkmal in die Demokratie "zu retten". Es ist längst dort angekommen. Es sind eher unsere konservativen Erwartungen an das Denkmal, die uns daran hindern, moderne Denkmalsetzungen als solche wahrzunehmen.
Die Auseinandersetzung insbesondere mit dem Holocaust sowie neue technische Möglichkeiten führten zu gänzlich neuen formalen Lösungen. Diese Entwicklungen fordern, dass wir grundsätzlich überdenken, was wir heute unter einem Denkmal verstehen. Werke wegen ihrer Andersartigkeit weiter als Gegendenkmal zu bezeichnen oder sie als Installationen zu umschreiben, ignoriert, was in den letzten Jahrzehnten auf diesem Gebiet geleistet wurde.
Meine Reflexionen über das Potential der Denkmäler beschränken sich auf gewählte Themen und Formensprachen. Was (noch) fehlt, sind Rezeptionsstudien, die Aufschluss darüber geben, wie Menschen Denkmäler in ihrem Alltag wahrnehmen. Das möchte ich in Wien versuchen. Über Ihre Teilhabe an meiner Forschung freue ich mich.
Tanja Schult, geboren 1973 in Lübeck, ist Kunsthistorikerin und Dozentin an der Universität Stockholm und zurzeit Gastforscherin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: tanja.schult@arthistory.su.se