Schießereien bringen altes Problem der nicht anerkannten Grenze aufs Tapet.
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Kabul/Islamabad. Nur wenige Tage nach der Tötung eines afghanischen Grenzpolizisten an der afghanisch-pakistanischen Grenze kam es am Montag erneut zu Feuergefechten zwischen Streitkräften der beiden Länder. Zur Auseinandersetzung sei es gekommen, als pakistanische Soldaten eine letzte Woche beschädigte Grenzanlage instand setzen wollten, berichteten afghanische Polizisten. Angaben des afghanischen Außenministeriums zufolge gab es am Montag jedoch keine neuen Verletzten. Wie bereits am Wochenende brachen in mehreren Städten Afghanistans Proteste gegen den Nachbarstaat aus.
Bereits nach dem fünfstündigen Gefecht in der Vorwoche hatte Afghanistan hunderte Soldaten in die Grenzregion der östlichen Provinz Nangarhar verlegt. Beide Staaten beschuldigen einander seither, die Zusammenstöße provoziert zu haben.
Diskussion über Tabuthema
Die Vorfälle werfen einen weiteren Schatten auf die ohnehin aktuell sehr belasteten Beziehungen der Nachbarländer. Vor allem aber haben sie eine Diskussion losgetreten, die vornehmlich für afghanische Politiker lange ein Tabuthema war. Es berührt das Herzstück der jahrzehntelangen Dispute zwischen den Staaten: die fehlende Anerkennung der Durand-Linie durch Afghanistan.
Die Durand-Linie ist die 2640 Kilometer lange Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan, die 1893 vom britischen Außenminister Henry Mortimer Durand gezogen wurde. Die Linie teilt die Gebiete des Volkes der Paschtunen in zwei Hälften, das Emirat Afghanistan verlor damals etwa ein Drittel seines Territoriums. Pakistan erkannte die Linie offiziell an.
Afghanistan, seit 1919 unabhängig, tat dies jedoch nie. Im Gegenteil: Kurz nach der Gründung Pakistans 1947 erklärte die Loya Jirga (große Versammlung der Afghanen) im März 1949 alle früheren afghanisch-britischen Verträge für null und nichtig. Afghanistan hatte bisher nicht vor, diesen Trumpf aus der Hand zu geben. Denn: Pakistan fürchtet, die Paschtunen, vielleicht mit ihnen sogar die Balutschen in Pakistan, könnten sich abspalten und Afghanistan anschließen. Dies wäre der Beginn des Zerfalls Pakistans, das in den Jahren seit seiner Gründung außer dem Islam kaum eine die Bewohner verbindende nationale Identität aufbauen konnte.
Die Afghanen selbst haben gemischte Gefühle über die Durand-Linie, sagt Nader Nadery vom Think Tank AREU in Kabul zur "Wiener Zeitung". Es gäbe Afghanen, die für die Anerkennung der Grenze eintreten in der Hoffnung, dass damit ein Ende der vielseitigen Schwierigkeiten mit Pakistan erzielt wird. Vor allem Junge und Angehörige von Ethnien außer den Paschtunen wären dafür. Auch Offizielle sprechen sich dafür aus, wenn auch nur unter vorgehaltener Hand. Eine landesweite Umfrage jedoch hätte es nie gegeben, sagt Nadery. Ob eine Anerkennung überhaupt den gewünschten Effekt einer friedlichen Beziehung mit Pakistan hätte, bezweifelt er: "Dafür gibt es keine Garantie."