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Neue Häuser im alten Geist

Von Hermann Schlösser

Wissen

Die Rekonstruktion zerstörter historischer Bauten ist bei vielen Architekten und Stadtplanern verpönt - dabei ist sie ein mögliches Mittel, um die Vergangenheit sichtbar zu machen.


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Wer über die Boulevards der schönen Stadt Paris flaniert, sollte bei aller Freude an der baulichen Pracht nicht vergessen, dass hier das denkmalgeschützte Resultat eines urbanistischen Kahlschlags zu bewundern ist. Der Stadtplaner Baron Georges-Eugène Haussmann verordnete der französischen Hauptstadt im 19. Jahrhundert ein modernes Erscheinungsbild und nahm dafür billigend in Kauf, dass wertvollste historische Bausubstanz systematisch demoliert wurde.

Wie in Paris, so anderswo. Immer und überall müssen alte Gebäude weichen, damit neue errichtet werden können. Ein aktuelles Beispiel lässt sich in Wien studieren: Weil ein neuer Hauptbahnhof gebaut wird, wurde der alte Südbahnhof abgerissen. Allerdings hat dieser unlängst verschwundene Bau seinerzeit selbst zwei Vorgänger verdrängt: den Süd- und den Ostbahnhof, die aus dem Gedächtnis der Wiener weitgehend verschwunden sind.

Ob man es nun schätzt oder verurteilt - die Vernichtung des Alten zugunsten des Neuen ist jedenfalls eine weit verbreitete Praxis. Zu ihrer Rechtfertigung werden in der Regel sachliche Gründe angeführt, doch kommt darin wohl auch jene destruktive Energie zum Ausdruck, die Alexander Kluge einmal treffend als "Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit" beschrieben hat. Manche Zeiten und Kulturen (oder doch deren maßgebliche Repräsentanten!) wollen sich nur in Bauten wiedererkennen, die ihnen zeitgemäß erscheinen, und wenn dabei etwas Altmodisches im Weg steht, läuft es Gefahr, abgerissen zu werden.

"Zerstörungskraft"

Die Vermutung, es müsse sich bei dieser Abneigung gegen das Althergebrachte um eine spezifisch moderne Verhaltensweise handeln, liegt nahe, trifft aber nicht zu. Auch in früheren Jahrhunderten wurde nach Kräften ruiniert. In seinem 1855 erschienenen Kunstführer "Der Cicerone" beschrieb der Kunsthistoriker Jacob Burckhardt unter anderem die spärlichen Relikte des römischen "Tempels der Venus und Roma", und er notierte: "Man frägt sich nur, wo der Rest hingekommen. Was wurde aus der 500 Fuß langen und 300 Fuß breiten Halle von Granitsäulen, welche den Tempelhof umgab?" Burckhardts Antwort: "Wenn irgendwo, so äußert sich hier die dämonische Zerstörungskraft des mittelalterlichen Roms, von welcher sich das jetzige Rom so wenig mehr einen Begriff machen kann, dass es beharrlich die nordischen Barbaren ob all der gräulichen Verwüstungen anklagt."

Diese "Zerstörungskraft" scheint also eine verbreitete menschliche Eigenschaft zu sein. Doch wird sie vom ebenso menschlichen Bedürfnis nach Bewahrung und Erhaltung in Schach gehalten, sodass Abriss und Wiederherstellung oft aufeinanderfolgen. Wie Jacob Burckhardt sagt, finden sich immer irgendwelche "Barbaren", die nachträglich für die Verwüstungen verantwortlich gemacht werden können.

Burckhardts 19. Jahrhundert war - bei aller Technik- und Fortschrittsgläubigkeit - in ästhetischen Fragen weitgehend konservativ. Aus dem sehr lehrreichen Buch "Rekonstruktionen", das der Wiener Sozialwissenschafter und Publizist Robert Schediwy kürzlich veröffentlicht hat, ist etwa zu erfahren, dass erst im 19. Jahrhundert die Idee aufkam, den Kölner Dom, der Jahrhunderte lang unvollendet geblieben war, auf der Basis überlieferter Pläne zu Ende zu bauen. Hier wurde also ein Gebäude neu errichtet, das es in dieser Form niemals gegeben hat. Obwohl dieser romantisch-spekulative Neubau aus dem Geist der Gotik als politisch restaurativ und als baukünstlerisch fragwürdig kritisiert wurde, ist er in Jahrzehnte langer Arbeit (1842-1880) vollendet worden. Und nachdem der Dom einmal stand, wurde er auch akzeptiert. Heute käme hoffentlich niemand mehr auf die Idee, den Kölner Dom in den historisch korrekten Zustand des 13. Jahrhunderts zurückzubauen.

Nun ist allerdings zu bedenken, dass alte Gebäude nicht nur von neuerungswütigen Architekten in Gefahr gebracht werden, sondern vor allem von Erdbeben, Bränden und ähnlichen Naturgewalten, sowie von Kriegen, Revolutionen und anderen historischen Großtaten. Im Pfälzischen Erbfolgekrieg des Jahres 1689 wurden zum Beispiel alle wichtigen Ortschaften, Burgen und Schlösser am Oberrhein von französischen Regimentern in Schutt und Asche gelegt. Die Städte wurden wieder aufgebaut, während die Überreste der Burgen vor sich hin moderten und dem Ruinenkult der deutschen Rheinromantik den Boden bereiteten.

Neubauten und Ruinen

Wie von Schediwy zu lernen ist, wurden auch viele dieser Burgen im Lauf der nationalen Besinnung des 19. Jahrhunderts wieder aufgebaut. Und sind sie auch "zu schön um echt zu sein", wie Schediwy schreibt, werden sie doch bis heute gern als Hotels oder Verwaltungsgebäude genutzt.

Zu den wenigen Schlossbauten dieser Region, die in wesentlichen Teilen Ruine geblieben sind, gehört das berühmte Heidelberger Schloss, das noch eine Ahnung vom Ausmaß der Zerstörungen von 1689 vermittelt. Im 19. Jahrhundert wurde zwar erwogen, auch diese einstige Kurfürstenresidenz wieder zu errichten, doch konnte das damals verhindert werden (nur einzelne Teile wurden aufgebaut). Heute verfiele niemand mehr auf den Gedanken, das Heidelberger Schloss zu rekonstruieren. Es hat sich der kollektiven Erinnerung als erhabene Ruine eingeprägt, und warum sollte man daran etwas ändern?

So gewalttätig die Kriege vergangener Epochen auch gewesen sind, so wenig können sie doch mit den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts verglichen werden. Insbesondere der Zweite Weltkrieg mit seinen flächendeckenden Bombardements hat in vielen europäischen Städten Spuren hinterlassen. Das gilt im besonderen für Deutschland: Wer historische Ansichten von Frankfurt am Main, Darmstadt, Hamburg oder Dresden mit dem heutigen Aussehen dieser Städte vergleicht, wird vor allem bemerken, dass die derzeitigen Stadtbilder mit den überlieferten kaum mehr etwas gemein haben.

Diese radikale Veränderung im Aussehen vieler deutscher Städte ist einerseits auf das enorme Ausmaß der Zerstörungen zurückzuführen, andererseits aber auch auf grundlegende Weichenstellungen beim Wiederaufbau des (wie man in der Nachkriegszeit sagte) "ausgebombten" Landes. Politiker, Publizisten, vor allem aber die verantwortlichen Stadtplaner und Architekten waren nach 1945 in West- wie Ostdeutschland der erklärten Meinung, die Verluste an historischer Bausubstanz dürften nicht durch Rekonstruktionen "wieder gut" gemacht werden.

Nach der Niederlage eines vom Volk unterstützten Unrechtsregimes komme nur ein konsequenter Neuanfang in Frage, und keine nostalgische Rückbesinnung aufs Verlorene. Der katholische Theologe und Publizist Walter Dirks zum Beispiel forderte 1948 "Mut zum Abschied" und erklärte: "Der Mensch baut, und der Mensch zerstört. Wir müssen uns damit abfinden, ja wir müssen damit in einem tieferen Sinne einverstanden sein."

Während Dirks eine demütige Haltung einklagte, waren viele Architekten von der Kahlschlag-Situation sogar fasziniert. Hans Scharoun, der in den fünfziger Jahren mit seinem Berliner Philharmonie-Gebäude ein Musterbeispiel des neuen Bauens liefern sollte, versprach sich Einiges vom (scheinbar) vergangenheitslosen Neubeginn. 1948 formulierte er in befremdlicher technokratischer Kühle: "Die mechanische Auflockerung durch Bombenkrieg und Endkampf gibt uns jetzt die Möglichkeit einer großzügigen organischen und funktionellen Erneuerung."

Nun wurde diese "mechanische Auflockerung" nicht von allen Deutschen so vorteilhaft empfunden wie von den Architekten. Wie Robert Schediwy dokumentiert, war der Wunsch nach radikalem Neubeginn in der Bevölkerung längst nicht so fest verankert wie in den Zirkeln der Fachleute. Bald wurde der Ruf nach Rekonstruktion historisch bedeutsamer Bauten laut, und er verhallte nicht ungehört. 1947 wurde in Frankfurt mit dem Wiederaufbau des total zerstörten Goethehauses begonnen - und das, obwohl Architekten, Stadtplaner, aber auch Germanisten und andere sogenannte "führende Köpfe" die Wiederherstellung von Goethes Geburtshaus als illusionären Kitsch ablehnten. Auch in der westfälischen Stadt Münster, vor allem aber in den bayrischen Städten München, Würzburg und Rothenburg ob der Tauber setzte sich eine behutsame Rekonstruktionspolitik gegen das Neubeginn-Konzept durch.

Dennoch vollzog sich der Wiederaufbau der deutschen Städte bis in die 1970er Jahre hinein weitgehend im Geist der anti-historischen Moderne. Dann aber kam es allmählich - meistens unter dem Druck von Bürgerinitiativen - zur Rückbesinnung. Die Rekonstruktion vernichteter Bauten, die in anderen Ländern (etwa Belgien oder Polen) niemals ein Tabu war, ist seit den 1980er Jahren auch in Deutschland wieder denkbar. Eine bekannte Rekonstruktionsleistung aus neuester Zeit ist die protestantische Frauenkirche in Dresden, die in DDR-Zeiten mahnmalgleich als Ruine im Stadtbild stand. Seit 2006 ist die hohe Kuppel der Kirche wieder ein prägendes Element der Dresdener Stadtsilhouette.

Kompromisse

Auch dieser Wiederaufbau ist nicht unumstritten gewesen. Der Vorwurf des Unechten wurde von der Fachwelt ebenso erhoben wie seinerzeit beim Goethehaus. Und doch ist, wie Schediwy mit Recht betont, "die Sehnsucht nach der verlorenen Altstadt" ein legitimes menschliches Gefühl - genau wie die Lust an Abriss und Neubeginn. Spätestens, wenn die Frauenkirche noch etwas mehr Alters-Patina angesetzt haben wird, wird sie genauso fraglos akzeptiert werden wie der Kölner Dom.

Das ändert allerdings nichts daran, dass der größte Teil der Dresdener Altstadt unwiederbringlich verloren ist. Alles lässt sich eben nicht rekonstruieren, das überfordert die finanziellen und technischen Möglichkeiten. Aber selbst wenn die umfassende Wiederherstellung alter Stadtbilder machbar wäre - wäre sie dann auch wünschbar? Wahrscheinlich doch nicht, denn es ist nicht von der Hand zu weisen, dass dabei die Gefahr der musealen Erstarrung droht. Allerdings sollte man sich auch nicht einreden lassen, unwirtliche Glasfassadenwüsten seien die einzig denkbare Alternative zum Museum. Möglich wäre immerhin auch eine geschichtsbewusste Stadt, die sich ihrer Vergangenheit baulich vergewissert und zugleich (an anderen Bauplätzen) Freiräume für Neues bietet.

Hermann Schlösser, geboren 1953, ist "extra"-Redakteur und Sachbuchautor. Zuletzt: "Die Wiener in Berlin. Ein Künstlermilieu der 20er Jahre." (Edition Steinbauer, Wien 2011).

Literatur:Jacob Burckhardt: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Beck, München 2001.Ulrich Conrads (Hrsg.): Die Städte himmeloffen. Reden und Reflexionen über den Wiederaufbau des Untergegangenen und die Wiederkehr des Neuen Bauens 1948/49. Birkhäuser Basel 2003.Robert Schediwy: Rekonstruktion. Wiedergewonnenes Erbe oder nutzloser Kitsch? LIT, Wien 2011. (Das Buch wird am 1. 12. um 18.00 Uhr im Ranftlzimmer des Wiener Künstlerhauses präsentiert.)