Bern · In der Schweiz geht die Debatte um Holocaust-Gelder und die Abschiebung jüdischer Flüchtlinge in eine neue Runde. Eine von der Regierung in Auftrag gegebene 900-Seiten-Studie zur | Behandlung der Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg sorgt bereits vor ihrer für den 10. Dezember angekündigten Veröffentlichung für böses Blut.
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Wie im voraus bekannt wurde, werfen die Autoren der Flüchtlingsstudie den Entscheidungsträgern von damals vor, sie hätten die jüdischen Flüchtlinge eher als Bedrohung empfunden und nicht als
Hilfsbedürftige. Die Schweiz habe sich kleinlich verhalten und sei mit ihrer Neutralität zum Handlanger Hitlers bei der Ermordung der Juden geworden.
In Bern regt sich jetzt lauter Protest gegen die Ergebnisse der unabhängigen Historikerkommission unter der Leitung von Jean-Francois Bergier. "Der Schinken liest sich wie eine Anklageschrift statt
wie eine historische Arbeit", empörte sich ein Parlamentsmitglied, das lieber anonym bleiben will, vor Journalisten. Ein ebenfalls ungenannter Historiker bezeichnete die Untersuchung gegenüber der
"SonntagsZeitung" als "politisches Pamphlet", unter das er selbst niemals seine Unterschrift gesetzt hätte. Auch der Präsident der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP), Franz Steinegger,
kritisiert den Bergier-Bericht.
Für Martin Suter, Kommentator der "SonntagsZeitung", beweisen derartige Reaktionen dagegen nur, dass manche bürgerlichen Politiker aus der ganzen Debatte über die Rolle der Schweiz im Zweiten
Weltkrieg nichts gelernt haben. "Als habe die Holocaust-Debatte nie stattgefunden, hängen sie dem Mythos nach, die Schweiz habe damals eine blütenreine Weste getragen", meint er und warnt: "Dieses
Märchen ist nimmer zu halten, im Ausland schon gar nicht."
Nach vorsichtigen Schätzungen hat die Schweiz während des Zweiten Weltkrieges rund 230.000 Flüchtlinge aufgenommen, darunter 22.000 Juden. Rund 30.000 Asylsuchende sollen an den Landesgrenzen
abgewiesen worden sein · auch an der Grenze zu Österreich -, weitere 14.500 in den diplomatischen Vertretungen der Schweiz im Ausland.
Doch nicht nur um die schwierige Aufarbeitung der Flüchtlingsfrage wird in der Schweiz zurzeit heftig gerungen. Auch die für Montag angekündigte Veröffentlichung einer neuen Liste mit
"nachrichtenlosen" Konten von Holocaust-Opfern bei Schweizer Banken sorgt für Zündstoff.
Denn die Mitglieder der Volcker-Kommission, die unter dem Vorsitz des ehemaligen US-Notenbankchefs Paul Volcker in der Schweiz seit 1996 nach verschollenen Konten forscht, sind sich nicht einig
darüber, welche Kontendaten veröffentlicht werden sollen.
Bei den letzten Sitzungen der Kommission plädierten dem Vernehmen nach vor allem die jüdischen Vertreter der Kommission für die komplette Veröffentlichung der 45.000 aufgefundenen Konten. Die
Vertreter der Schweizer Banken sollen sich dagegen nur für die Publikation solcher Konten ausgesprochen haben, bei denen eine Verbindung zu Holocaust-Überlebenden bereits einigermaßen gesichert ist.