Die Christ- und Sozialdemokraten haben ihre gemeinsame Mehrheit im EU-Parlament verloren. Rechtspopulisten, aber auch grüne und liberale Gruppierungen gewannen Stimmen dazu.
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Brüssel/Wien. Der deutliche Rechtsruck blieb aus – zumindest den ersten Prognosen zufolge. Befürchtungen in proeuropäischen Kreisen, dass nationalistische und europaskeptische Parteien nach massiven Stimmenzugewinnen die Arbeit des künftigen EU-Parlaments torpedieren können, werden sich kaum bewahrheiten. Obwohl in Frankreich Marine Le Pens Gruppierung den ersten Platz belegt hat, in Italien Matteo Salvinis Lega das gleiche schaffte und in Deutschland die AfD mehr Mandate im EU-Parlament errang als sie bisher hat – die Rechtspopulisten müssen im Abgeordnetenhaus keineswegs tonangebend sein, auch wenn sie gewiss lauter werden.
Ersten Prognosen zufolge kommen sie auf mehr als hundert Mandate. Werden EU-kritische Parteien wie die britischen Konservativen so wie die polnische Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hinzugezählt, sind es mehr als 170 Sitze. Dennoch sind es die Christdemokraten, die die meisten Stimmen erhalten haben.
Die Bildung von Mehrheiten wird das Wahlergebnis jedenfalls nicht erleichtern. Hatten die Christ- und die Sozialdemokraten nach dem Urnengang 2014 eine absolute Mehrheit im Abgeordnetenhaus, ist diese nun dahin. Das geht nicht nur auf die Zugewinne der nationalistischen und populistischen Gruppierungen zurück – auch grüne und liberale Parteien erlangten mehr Stimmen als zuvor. Der Block der proeuropäischen Kräfte ist damit zwar noch immer größer als jener der EU-Skeptiker. Doch könnte es am rechten politischen Rand eine lautstarke Gruppe geben.
Ob diese sich zu einer einzigen Fraktion zusammenfinden wird, ist freilich noch offen. Lega-Vorsitzender Salvini hat bereits im Vorfeld die Bildung eines Bündnisses angekündigt, das er "Allianz der europäischen Völker und Nationen" taufen möchte. Ein knappes Dutzend Parteien, von Le Pens Rassemblement National über die AfD bis hin zur FPÖ, konnte er für das Vorhaben gewinnen. Dennoch könnte die Fraktionsbildung schon bald auf Hürden stoßen – wenn die Meinungsunterschiede zwischen den Parteien allzu sichtbar werden. Strittige Themen können etwa die Notwendigkeit von Budgetdisziplin oder die Russland-Politik sein.
Die Anziehungskraft von Salvinis Lega könnte nach dessen Wahlerfolg – mit knapp 30 Prozent der Stimmen – dennoch groß sein. Der Italiener würde auch gern die ungarische Regierungspartei Fidesz für sein Bündnis gewinnen. Diese ist aber noch Mitglied der Europäischen Volkspartei (EVP), wenn auch suspendiert.
Feilschen um Topjobs
Wie sie künftig mit der Partei von Premier Viktor Orban umgehen wird, ist aber nur eine der Herausforderungen für die Christdemokraten. Es geht für sie auch um hohe Ämter. Die EVP wurde zwar erneut stärkste Kraft im Europäischen Parlament und erhebt daher den Anspruch, dass ihr Spitzenkandidat Manfred Weber der nächste Präsident der EU-Kommission wird. Aber so einfach wie nach der Wahl 2014 wird das nicht mehr sein.
Damals hatte die EVP nämlich mit den Sozialdemokraten eine Vereinbarung getroffen: Die stimmenstärkste Partei besetzt den Spitzenposten in der Kommission, und die zweistärkste stellt den Präsidenten des EU-Parlaments. Die Regierungen ließen das zu, und EVP-Listenerster Jean-Claude Juncker übernahm den Job des Kommissionspräsidenten.
Allerdings gibt es keinen Automatismus: Die Mitgliedstaaten könnten zu ihrem früheren Prozedere zurückkehren, bei dem sie sich untereinander ausgemacht haben, wer Chef der Brüsseler Behörde wird.
Das Feilschen um die EU-Topjobs hat bereits begonnen. Denn nicht nur das Amt des Parlaments- sowie des Kommissionspräsidenten gilt es in den kommenden Wochen und Monaten zu besetzen. Auch ein neuer EU-Ratspräsident muss im Herbst gekürt werden. Ebenso ist die Spitze der Europäischen Zentralbank neu zu besetzen. Da bei all dem die Interessen der Parteien, Länder und Regionen zu berücksichtigen sind, gibt es meist eine Paketlösung.
Suche nach Koalitionen
Die Staats- und Regierungschefs werden schon am Dienstag bei einem Abendessen in Brüssel eine Debatte über die Postenbesetzungen führen. Dass das EU-Parlament aber dieses Mal auf Mitsprache verzichtet, ist nicht anzunehmen.
Im Abgeordnetenhaus könnte sich zum Beispiel eine Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten mit Liberalen und Grünen bilden, die einen Kandidaten des Parlaments für den Posten des Kommissionspräsidenten durchsetzen will. Gelänge dieses Bündnis, könnten sich auch die rechtspopulistischen und EU-kritischen Kräfte nicht querstellen – dafür würde ihre Mandatsstärke nicht ausreichen. Das ist für die Kür der künftigen EU-Kommission wesentlich: Denn die Behörde muss von der Volksvertretung bestätigt werden. Das müssen die Staats- und Regierungschefs bei ihren Personaldebatten ebenso bedenken.