Der Raketenantriebsforscher Edgar Choueiri gehört zu den meist ausgezeichneten Wissenschaftern der Welt. Mit seiner neuen Erfindung schickt er sich derzeit an, unsere Hörgewohnheiten für immer zu verändern.
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Edgar Choueiri ist ein Genie. Einer von den Menschen, die eine Maschine anschauen und 30 Sekunden später nicht nur verstehen, wie sie funktioniert, sondern es einem auch erklären können (wenn man sich das antun will). Einer von denen, die nicht einmal ein Jahr in einem fremden Land leben und danach die Sprache der Einheimischen nicht nur perfekt lesen, sondern auch schreiben können. Einer von denen, die, auf die Frage, was sie bisher so gemacht haben, nicht antworten: "Ach, das übliche, Arbeit halt", sondern in beängstigend selbstverständlichem Ton von ihren Erlebnissen in drei, vier, fünf europäischen und asiatischen Metropolen berichten, in denen sie gerade Vorträge über "Instabilitäten und Turbulenzen bei kollidierenden Plasmateilchen" gehalten haben.
Ein Star der Forschung
Im amerikanischen Englisch gibt es eine Redensart, die immer dann benutzt wird, wenn man jemandem zu verstehen geben will, dass er oder sie schwer von Begriff ist: "C’mon. It’s not exactly rocket science." (Sinngemäß übersetzt: "Geh, bitte. Man muss kein Raketenforscher sein, um das zu kapieren.") Edgar Choueiri würde diese ganz und gar alltägliche Phrase niemals in den Mund nehmen. Dafür hat er zu viel Respekt vor seiner Arbeit.
Edgar Choueiri ist Raketenforscher. Genauer: Raketenantriebsforscher. Noch genauer: Der 50-Jährige leitet das Raketenantriebs-Forschungslabor der amerikanischen Eliteuniversität Princeton, New Jersey. Ihr dient er zudem als Professor für Angewandte Physik und Luft- und Raumfahrttechnik.
In diesen, seinen ureigenen Feldern, zählt er zu den höchst dekorierten Wissenschaftern unserer Zeit. (Choueiri ist, unter anderem: Präsident der Internationalen Gesellschaft für Raketenantriebsforschung, Ehrenvorsitzender des "American Institute of Aeronautics and Astronautics Elec-tric Propulsion Technical Committee", Träger des Ordens des "Ritters der Zeder" - die zweithöchste Ehre, die einem im Staate Libanon zuteil werden kann. Choueiri ist seit langem US-Staatsbürger, aber im Nordlibanon geboren.) Und Edgar Choueiri ist der Mensch, der die Hörgewohnheiten des 21. Jahrhunderts verändern wird.
"Ich muss dich an jemanden weitergeben, der unbedingt mit dir reden will", sagt die Stimme am anderen Ende des Telefons. Ein Knacken, dann: "Ich wollte, muss dir gratulieren. Man hat mir gerade deine neue Erfindung vorgeführt. Das ist unglaublich, eine Revolution. Hör zu: Wenn das okay für dich ist, gehe ich damit morgen zu meinen Leuten bei Apple und rede mit ihnen darüber. Die müssen einfach was daraus machen."
Reges Firmeninteresse
Choeuiri bedankt sich, tauscht noch ein paar Höflichkeitsfloskeln aus, dann legt er auf. Es ist erst ein paar Monate her, dass sich der beschriebene Anruf genau so ereignete. Der neue Fan hatte gerade einen Freund Choueiris zu Besuch, der ihn mit dessen Erfindung vertraut gemacht hatte. Der Mann, der in den Siebzigern gemeinsam mit Steve Jobs Apple gegründet hatte, gab sich schwer beeindruckt. Steve Wozniak pflegt heute (wieder) gute Kontakte zu seiner alten Firma. Ob sie eine von denen sein wird, die von Choueiris Erfindung am meisten profitieren werden, wird sich erst in paar Jahren weisen.
Seit sie bekannt geworden ist, gibt es im Bereich der Unterhaltungselektronik praktisch keinen Weltkonzern, der sich nicht darum angestellt hat. Das Rennen machte bisher nur einer: Sony. Kazuo Hirai, seit Anfang April CEO (Chief executive Officer) und Präsident des japanischen Giganten und Vorstandsvorsitzender Sir Howard Stringer empfingen Choeuiri jüngst persönlich und drückten ihm - beziehungsweise der Uni Princeton, welche die Vermarktung seines Patents übernommen hat - ein paar Millionen Dollar in die Hand, um die Forschungsergebnisse weiter zu optimieren.
Geheimnisvolle Filter
Edgar Choueiris Erfindung klingt simpel: 3D Sound. Ein dreidimensionales Hörerlebnis in feinster Klangqualität. Aus zwei stinknormalen Stereolautsprechern. "Es ist ungefähr so, wie wenn man einen 3D-Film ohne Brille und sonstige technische Hilfsmittel schaut und trotzdem das volle dreidimensionale Erlebnis hat", erklärt Choueiri. Wem noch immer nicht ganz klar ist, was das bedeutet, dem kann man es vielleicht so erklären: Choueiris Patent verhält sich zu dem, was wir heute als "Surround Sound" als das höchste der Gefühle kennen, ungefähr so wie die Glühlampe von Thomas Edison zu einer Kerze. Das Geheimnis liegt in von ihm entwickelten, speziellen Filtern, deren innere Zusammensetzung ihm - und bis heute nur ihm und seinem Lizenzpartner - bekannt sind und die einfach in handelsübliche Stereolautsprecher eingebaut werden können. Aus, fertig.
Das Erlebnis, das einer hat, der sich zum ersten Mal dieser Art von Sounderfahrung aussetzt, kann Angst machen.
Tatort: Das dem Raketenantriebsforschungslabor angeschlossene Audiolabor Choueiris am Campus der Uni Princeton, das keine 40 Quadratmeter umfasst. Der Professor bittet den Probanden in einen in dem Raum befindlichen Kubus, der nur einen Ein- und Ausgang hat und der innen mit weißen, schallschluckenden Polstern abgedichtet ist. "Bitte in der Mitte aufstellen, hinter dem Kopf." Der Kopf ist ein der Form des menschlichen Schädels nachempfundener Dummy, an dem ein paar Kabel herunterhängen. Gegenüber stehen zwei Stereolautsprecher. "Bereit?" "Bereit." Die Show beginnt.
Dass an diesem Ort Geschichte geschrieben wird, wird dem Zuhörer schon nach den ersten Samples - Regentropfen, Jazz- und Bluesklänge, eine Fliege, Johann Sebastian Bach - klar. Die Töne fegen einem buchstäblich übers Haupt, gehen in die Nase, legen sich über die Stirn und rinnen einem dann den Rücken herunter; klingt komisch, ist aber so.
Die volle Wucht des 3D Sounds entfaltet sich aber erst, wenn man die Augen schließt. Das letzte Stück, das Choueiri per iPhone-Fernsteuerung auflegt, besteht in einem Besuch beim Friseur. Die Geräusche einer imaginären Schere, schnippschnapp, einmal weit weg, plötzlich ganz nah; unweigerlich greift man sich nachher ungläubig an den Kopf. Kein Härchen fehlt, aber das Gehirn muss sich erst einmal von dem Schock erholen. Choueiri lächelt. "Cool, ey?" Er ist sich der Wirkung bewusst, die seine Erfindung auf die entfaltet, die ihr zum ersten Mal ausgesetzt werden.
Auf die Idee des perfekten dreidimensionalen Sounderlebnisses kam Choueiri vor rund neun Jahren. Im Rahmen einer der zahllosen Wissenschafter-Konferenzen, die er kraft seines Amtes im Jahr besucht, stolperte der Klassikfreak 2003 in ein Meeting der internationalen "Audio Engineering Society", in der die Teilnehmer gerade heftig über die Möglichkeit von 3D Sound diskutierten - und vor allem erörterten, warum es noch nie jemandem gelungen sei, diesen möglichst realistisch zu (re-)produzieren.
Choueiri hörte sich das Ganze an, fuhr zurück nach Hause und "las in den Monaten danach praktisch alles an Fachliteratur, was es über das Thema zu lesen gab." Sein Wille, das Problem zu lösen, ging so weit, dass er sich in einer Ecke seiner Hausbibliothek - Choueiri wohnt in einem dezent mit edlen alten Bänden und Kunstwerken aus drei Jahrhunderten gefüllten Landhaus nahe der Uni - ein eigenes kleines Audiolabor zusammenbaute, in dem er fortan herumexperimentierte.
Nachdem die Universitäts-Oberen diese Art von Arbeit als Ergänzung zu seinem (großteils von der NASA und der Air Force finanzierten) Brotjob begriffen, gestatteten sie ihm, sich auf ihre Kosten gleich neben seiner regulären Wirkungsstätte ein State-of-the-Art-Labor einzurichten. Seitdem darf er sich zusätzlich "Direktor des Instituts für 3D Audio und Angewandte Akustik" nennen. Für Princeton zahlte sich der Deal schnell aus. Alles, was künftig an Lizenz-Einnahmen hereinkommt, wird zwischen Choueiri und der Uni brüderlich geteilt.
Sein Leben hat sich seit seiner Erfindung nicht wirklich verändert, sagt Choueiri, "meine E-Mail-Adresse ist seit 20 Jahren die gleiche", und auf Facebook wird er weiterhin nicht zu finden sein. Nur, dass er jetzt "vielleicht häufiger in New York sei als früher. Mittlerweile leistet er sich eine Wohnung auf der noblen Upper East Side, wo sich die Werke italienischer Futuristen zu jenen zeitgenössischer amerikanischer Bildhauer und Maler gesellen - die Kunst, "auch so eine meiner Leidenschaften".
Geboren im Libanon
Zuviel sollte und darf man nicht verraten, Choueiri schätzt und schützt seine Privatsphäre ebenso wie seine prominenten Bekannten. In den Nobelrestaurants von Manhattan wird er regelmäßig in Gesellschaft von Hollywoodstars vom Schlage Susan Sarandons gesichtet. Die Bodenhaftung zu verlieren droht er trotzdem nicht, der Libanon sei "immer noch die alte Heimat und obwohl ich die USA liebe, vergesse ich nicht, wo ich herkomme". Die Choueiris sind im Zedernstaat eine weit über die Grenzen ihrer Heimatstadt Tripoli hinaus angesehene Familie.
Tripoli ist mit einem Einzugsgebiet von rund einer halben Million Menschen die zweitgrößte Stadt des Libanon, sie liegt rund 85 Kilometer nördlich von Beirut. Die Mutter und der Bruder leben bis heute dort, der Vater, ein Maschinenbau-Ingenieur, der bei einem Autounfall starb, als Choueiri zwölf Jahre alt war, liegt dort begraben. "Wir waren wohlhabend, aber nicht reich", sagt Choueiri. Das Land, in dem er aufwuchs, war damals noch als die "Schweiz des Nahen Ostens" bekannt. Dann kam der lange Bürgerkrieg. Von 1975 bis 1990 verwandelten drusische, christliche, shiitische, sunnitische und palästinensische Milizen das Land in ein Schlachtfeld, rund 230.000 Menschen ließen ihr Leben.
Choueiri weiß, dass er Glück hatte. Er und seine Schwester durften im Ausland studieren, ihre Leidenschaft für die Naturwissenschaften zunächst in Frankreich, dann in den Vereinigten Staaten ausleben. (Choueiris um eineinhalb Jahre jüngere Schwester Berthe lebt und arbeitet heute ebenfalls als Forscherin und Uniprofessorin, für angewandte Informatik, an der Universität Nebraska in Lincoln. Ihr Spezialgebiet: Künstliche Intelligenz.)
"Ich hatte auch immer das Glück, gute Mentoren zu haben. Egal, wo es mich hinverschlagen hat." Ende der Siebziger in den USA angekommen, hatte es in den ersten zwei Jahren eher nicht so ausgesehen, als ob aus dem talentierten Herrn Choueiri etwas werden könnte. "Es hat gut begonnen. Ich war damals an der Uni Syracuse eingeschrieben, Raumfahrttechnik. Das Einzige, was jemals für mich in Frage kam. Ich war Zeit meines Lebens von allem fasziniert, was irgendwie mit der Raumfahrt zu tun hatte. Du darfst nicht vergessen, dass das für meine Generation noch etwas ganz Besonderes war, die Erforschung des Weltraums. Aber, was soll ich sagen. Wenn ich ehrlich bin: Es ist relativ bald ,Animal House‘ dazwischen gekommen."
Das Kind im Manne
Die College-Klamotte von John Landis mit John Belushi in der Hauptrolle (deutscher Titel: "Ich glaub, mich tritt ein Pferd"), heute ein Klassiker ihres Genres, lieferte die Blaupause für das amerikanische Studentenleben der Achtziger, und Choueiri gab sich der neuen Freiheit "voll und ganz hin. Zu viel für den Geschmack meiner Professoren und meiner Mutter". Die Details solle man sich selber ausmalen, nur so viel: Einem Univerweis entgeht er damals nur knapp. Erst nachdem er sich auf Raketenantriebstechnik spezialisiert, werden auch seine Noten wieder besser und er landet in Princeton, wo "sich dann quasi eines zum anderen fügte".
Ein wenig Kindskopf ist Choueiri geblieben. Wenn er in eines seiner Stammbeisl in Downtown Manhattan geht (der Pfeifen- und Zigarrenaficionado bevorzugt Raucherlokale), brilliert er vor seinen Freunden gern als Zauberer. Dann zieht er zum Beispiel am Wirtshaustisch eine Packung Karten aus der Tasche, zeigt sie her - offenbar ganz normale Spielkarten. Er mischt sie gut durch und bittet anschließend sein Gegenüber, eine herauszuziehen und sie sich zu merken. Er nimmt die Karte - die er unmöglich gesehen haben kann - zurück und mischt noch einmal kräftig durch. "Fertig?", fragt er in die Runde. Dann nimmt er die Packung, aus der er die Karte gezogen hat. Auf der Längsseite der Packung steht eine Telefonnummer. "Ruf sie an", sagt Choueiri. Eine Tonbandstimme nennt die Karo Acht. Tja.
Die Runde ist so fassungslos wie begeistert. Choueiri lächelt. "Ich fliege viel herum und man kann ja nicht die ganze Zeit über physikalische, mathematische oder andere wissenschaftliche Probleme nachdenken."
Klaus Stimeder, geboren 1975 in Schärding/ Inn, war Gründer und Herausgeber des Monatsmagazins "Datum" und lebt nun als Autor und Journalist in New York.