In Ungarn begehren die Lehrer ob der Bildungsreform auf.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Budapest. Nur wenig schien bisher das Erfolgsimage von Viktor Orbán im eigenen Land zu trüben. Zuletzt hatte dem nationalkonservativen Regierungschef Ungarns der Bau von Grenzzäunen zur Abwehr von Flüchtlingen Sympathien sogar aus Kreisen eingebracht, die ihm ansonsten nicht gewogen sind. Dies ändert sich nun offenbar, weil die Lehrer aufbegehren. Sie haben die Nase voll vom überzentralisierten, bevormundenden und zugleich chaotischen Schulsystem, das ihnen Orbáns Bildungsreform ab 2011 beschert hatte. Für diesen Samstag planten sie eine große Kundgebung in Budapest. Es ist die größte Protestbewegung seit den Demonstrationen Ende 2014 gegen die Internet-Steuer, mit denen Orbán damals regierungskritische Portale an die Kandare nehmen wollte. Er ließ den Plan fallen. Seither war Apathie an der Protestfront eingekehrt.
Dass die Pädagogen jetzt aufmucken, scheint Orbán ernst zu nehmen. Sein Minister für Humanressourcen, Zoltan Balog, entließ die bisherige Staatssekretärin für das Schulwesen, Judit Czunyi-Bertalan. Ihr Nachfolger wurde der bisherige Staatssekretär für das Hochschulwesen, Laszlo Palkovics. Orbán selbst soll sich bei einer streng abgeschirmten Fraktionssitzung über den Lehrer Oliver Pilz ereifert haben, einen der Initiatoren der Proteste, berichtete die regierungskritische Zeitung "Nepszabadsag". Pilz, der am Herman-Otto-Gymnasium der nordungarischen Stadt Miskolc Mathematik, Physik und Biologie unterrichtet, sei offenbar von "ausländischen Kräften" gesteuert, soll Orbán gesagt haben. Denn es sei unwahrscheinlich, dass dieser "einfach so eines Morgens aufwacht und merkt, dass er außerordentlich unzufrieden ist", zitierte die Zeitung den Premier. Orbáns Sprecher dementierte diese Information.
Begonnen hatten die Proteste Mitte Jänner mit einem verzweifelten offenen Brief der Lehrer vom Miskolcer Gymmnasium, der umgehend von 30.000 Sympathisanten unterstützt wurde. Beklagt wurde darin, dass seit Orbáns Reform die Schüler nur noch zu Auswendiglernern und nicht mehr zu mündigen Bürgern erzogen würden, dass den Lehrer so viele bürokratische Pflichten aufgebürdet würden und dass der Unterricht zu kurz komme.
Vorwurf, Jugendliche sollen "hirnlose Untertanen" werden
"Unsere Kinder müssen Berge von Stoff lernen, aber die meisten sind unfähig, sich eine eigene Meinung zu bilden, oder sie sind nicht imstande, eine solche auszudrücken und logisch zu begründen", hieß es in dem Brief. Orbán, so ein schon von vielen Kritikern erhobener Vorwurf, wolle Ungarns Jugend zu hirnlosen Untertanen erziehen. Dafür spreche auch, dass unter Orbáns Einfluss das Limit der Schulpflicht von 18 Jahren auf 16 gesenkt wurde. Erklärtes Ziel ist es, weniger Akademiker und mehr Arbeiter zu produzieren. Die Zentrale kontrolliere demnach streng, ob das vorgegebene Lerntempo eingehalten werde - nicht die Qualität. Die Pädagogen dürfen die Lehrbücher nicht mehr frei auswählen. Der uniforme, vereinheitlichte Unterricht zementiere die sozialen Unterschiede der Kinder. Die Lehrer zittern nur noch vor der nächsten Inspektion und können nicht mehr auf Schüler eingehen, die vom Elternhaus her benachteiligt sind.
Das Chaos komplett macht die Finanzreform im Schulwesen, in deren Folge alle materiellen Bedürfnisse der Schulen zentral über das neu geschaffene Klebelsberg-Institut (Klik) geregelt werden muss. Demnach darf ein Schuldirektor ohne grünes Licht des Klik noch nicht einmal eine Glühbirne oder eine zerbrochene Fensterscheibe ersetzen. Graf Kuno von Klebelsberg (1875-1932) hatte als Reformer Wichtiges zum Kampf gegen Analphabetismus in Ungarn geleistet. Seine Nachkommen sollen laut Medienberichten erfolglos versucht haben, seinen Namen aus Orbáns Reform-Gebilde herauszuhalten.
Dabei war der materielle Zustand des Unterrichtswesens vor dem Jahr 2011 durchaus reformbedürftig. Bis dahin waren die Gemeinden für die Instandhaltung der etwa 2500 staatlichen Schulgebäude zuständig. Daraus ergaben sich Ungleichheiten, weil ärmere Dörfer weniger Geld dafür aufbringen konnten. Doch durch das Wirken des unterfinanzierten Klik wurde nun die Misere erweitert. Im Gymnasium von Miskolc sei es nicht gelungen, die wackeligen alten Regale der Schulbibliothek zu erneuern, um Unfällen vorzubeugen, weil Klik und Gemeinde sich fruchtlos gegenseitig die Verantwortung dafür zuschoben - unter den Blicken des machtlosen Schuldirektors, der nach den neuen Regeln derart "entmündigt" wurde, dass er nicht einmal dem Portier Dienstanweisungen erteilen dürfe, heißt es im Protestbrief.
Tausende Protestierendein elf Städten
Der Hilfeschrei aus Miskolc mobilisierte auch die bis dahin eher ruhigen Lehrergewerkschaften - die ältere PSZ und die neue PDSZ. Vor zehn Tagen gingen in elf Städten tausende protestierende Lehrer, Eltern und Schüler auf die Straße. Gegenüber den insgesamt mehr als 120.000 Lehrern Ungarns mag die Zahl der Demonstranten bescheiden wirken. Angesichts der Angst vor Repressionen ist sie aber bedeutend. In Orbáns Ungarn kann ein öffentlicher Angestellter jederzeit ohne Begründung entlassen werden. Zudem gibt es einen "ethischen Kodex" des Lehrerverbands, dem alle Pädagogen angehören müssen. Der Kodex besagt, dass ein Lehrer sich öffentlich nur "im Interesse seines Arbeitgebers" äußern darf. Zudem hätten etliche Schuldirektoren ihren Lehrern die Teilnahme an den Protesten verboten - aber nur verbal, um diese Einschüchterung unbeweisbar zu machen, sagte László Mendrey, Vorsitzender der Gewerkschaft PDSZ.
Jedenfalls sind die Gymnasiasten von Miskolc trotz gefährlicher Bücherregale in ihrer Schule wache Bürger geblieben. Im schuleigenen Radiosender spendeten sie ihren protestierenden Lehrern Beifall und begrüßten deren lebendigen "Unterricht in Demokratie".