Der Weg für eine Regierungsbildung im Irak ist frei. Doch die revolutionäre Kraft der Straße ist versiegt.
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In Erinnerung an den Beginn der Massenproteste im Irak vor drei Jahren gab es zuletzt erneut Demonstrationen am Tahrir-Platz. Doch anders als 2019, als Hunderttausende für eine Neuordnung des politischen Systems, ein Ende der Korruption und Jobs auf Bagdads Straßen gingen, waren es diesmal nur ein paar tausend.
Dass die "Oktober-Revolution" an Schwung verloren hat, hat mehrere Gründe. 2020 beendete zunächst die Corona-Pandemie die Proteste. Nach den Wahlen im Oktober 2021 führten schiitische Bewegungen und Parteien die Proteste an - ein innerschiitischer Zwist hatte sich rund um die Bildung einer neuen Regierung entzündet. Diese Vorgänge lösten die friedlichen Massenproteste ab, die sich ursprünglich ohne Ausnahme gegen alle politischen Eliten wandten.
"Das ist der Grund, warum viele der Akteure von 2019 nicht an den aktuellen Protesten rund um den Jahrestag teilgenommen haben", sagt der Politikwissenschaftler Abbas Anbori im Gespräch mit der Wiener Zeitung. Rückblickend glaubt Anbori nicht, dass die "Oktober-Revolution" erfolgreich war. "Die Forderungen der Demonstranten waren zu wenig spezifisch", so Anbori. "Mit den Protesten zeigten die Jungen ihre Wut gegenüber der politischen Elite, aber sie hatten keinen strategischen Plan, keine klare organisatorische Führung." Das habe dazu geführt, dass die Bewegung an Bedeutung verlor.
Proteste gaben Hoffnung
Zaid Saad Atta sieht das anders. Die Massenproteste von 2019 haben sowohl bei den Menschen als auch beim politischen System einiges verändert, ist der junge Künstler überzeugt, dessen gesellschaftskritische Werke in Bagdads Galerien ausgestellt werden.
"Von meinen Freunden und Bekannten wollten vor 2019 viele den Irak verlassen", sagt Atta. Mit den Protesten habe sich das geändert. Die jungen Leute beschlossen zu bleiben, um für ihre Zukunft zu kämpfen. "Sie wollten etwas verändern, und die Oktober-Proteste gaben ihnen Hoffnung", so Atta.
Proteste habe es bereits vor 2019 gegeben, allerdings wurden diese von der Regierung kaum beachtet. Das habe sich mit den Massenprotesten geändert. "Die Politiker begannen auf die Stimme der Straße zu hören", sagt Atta. So trat aufgrund der Proteste im Dezember 2019 Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi zurück: "Die Politiker hören mittlerweile mehr auf die Forderungen von Demonstranten."
Seit dem Regierungsantritt von Premierminister Mustafa al-Khadimi 2020 habe sich auch das Verhalten der Polizei und der Sicherheitskräfte verbessert, die jetzt verstärkt auf Deeskalation setzen würden: "Sie sorgen sich mehr um das Image der Regierung."
Politiker und Heiliger
Dass die "Oktober-Revolution" heute insgesamt an Bedeutung verloren hat, davon ist aber auch Atta überzeugt. Stattdessen drängten von innerschiitischen Spannungen befeuerte Proteste in den Vordergrund. Zunächst versuchte der schiitische Geistliche Muktada al-Sadr, dessen Bewegung bei der Wahl im Oktober die meisten Sitze im Parlament gewonnen hatte, eine Regierung zu bilden. Das veranlasste seine schiitischen Rivalen zu Protesten gegen Al-Sadr aufzurufen. Nachdem wiederholt Versuche, eine Regierung nach seinem Wunsch zu bilden, gescheitert waren, zog Al-Sadr im Juni dieses Jahres seine Abgeordneten aus dem Parlament zurück. Er forderte die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen und verlagerte seinerseits die Politik auf die Straße.
Al-Sadrs Macht ist nicht zu unterschätzen, so der Politikwissenschaftler Anbori. Denn er werde von seinen Anhängern nicht nur als politischer, sonder auch als religiöser Führer wahrgenommen: "Die Menschen glauben, dass Muktada ein Heiliger ist." Das gebe Al-Sadr große Macht - wenn er zu Protesten aufruft oder zum Sturm auf das Parlament, wie im Juli, werden seine Anhänger das auch umsetzen. Außerdem verfügt er, wie auch andere schiitische Parteien, über eine bewaffnete Miliz.
Bei den politischen Auseinandersetzungen geht es nicht zuletzt um die Frage, welche Partei in welchem Ausmaß Zugriff auf die Ressourcen des Staates hat, damit sie ihre Klientel bedienen und ihre Macht erhalten oder gar ausbauen kann. Die Menschen wissen das natürlich, was dazu beigetragen habe, dass viele ihr Vertrauen in die politischen Eliten verloren haben, so der Künstler Atta. Das zeigte sich auch bei der Beteiligung an den letzten Wahlen, als gerade einmal 42 Prozent der Stimmberechtigten zur Urne gingen.
Grundsätzlich verstehe Atta aber, dass es für Politiker nicht einfach sei, Dinge im Irak zu verändern. Es müssen viele Interessen berücksichtigt werden; die der Koalitionspartner, jene der bewaffneten Milizen, der eigenen Klientel und ausländischer Kräfte, die Einfluss im Irak ausüben. Atta: "Im Irak eine stabile Demokratie aufzubauen, braucht Zeit, aber die Menschen haben kein Vertrauen, den Politikern diese Zeit zu geben."
Neuer Präsident gewählt
Am 14. Oktober wählte das Parlament schließlich Abdul Latif Rashid zum neuen Präsidenten. Wie es das Protokoll vorsieht, ernannte Rashid anschließend den vom stärksten Parlamentsblock, dem schiitischen "Koordinationsrahmen", vorgeschlagenen Muhammad Shia al-Sudani zum neuen Premierminister. Al-Sudani hat ein Monat Zeit, um eine Regierung zu bilden.
Al-Sadr hat bereits im Vorfeld klar gemacht, dass er den 52-jährigen Al-Sudani nicht akzeptieren werde. Für ihn ist Al-Sudani ein Frontmann seines langjährigen Feindes Nuri al-Maliki, der von 2006 bis 2014 das Amt des Premiers innehatte. Die Sadristen befürchten, dass Al-Sudani seinen Einfluss als Premier nutzen könnte, um ihre Macht zu beschneiden. "Zurzeit kann niemand vorhersagen, wie Al-Sadr auf die Nominierung Al-Sudanis reagieren wird", sagt Anbori. Es sei aber davon auszugehen, dass die Sadristen zunächst die Regierungsbildung abwarten werden, bevor sie weitere Schritte setzen.