Das Regelwerk ist ab sofort im Unterricht Pflicht, erlaubt aber Vielfalt. | Zusammen oder getrennt? Das Ohr entscheidet mit. | Wien. Die Rechtschreibreform ist "gegessen", wissen die Beamten im Unterrichtsministerium - doch erst seit der Reform dieser Reform im Jahr 2006. Nach zwei Jahren Übergangsfrist ist sie nun mit 1. August für alle Ämter und Schüler verbindlich geworden.
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Im neuen Schuljahr hat das Korrigieren von Schularbeitsheften mit verschiedenfarbigen Tinten ein Ende: Was nach der neuen Rechtschreibung falsch, nach der alten richtig ist, wurde angestrichen, doch nicht als Fehler gezählt. Zwölf Jahre waren die Lehrer auf Trab gehalten und haben für die leidige Reformpflicht viel Zeit aufgewandt, die sie besser zu nutzen gewusst hätten.
Die politisierende Pädagogik warf diese Mehrarbeit gerne Elisabeth Gehrer vor. Doch die Reform war schon in den frühen 90ern mit der Schweiz und Deutschland paktiert. Gehrer hielt als Ministerin einen Tausch des Duden-Regelsystems gegen ein neues Regelwerk für unnötig, sie hätte allenfalls, wie die Schweizer 70 Jahre früher, aus allen " ß " ein " ss " gemacht.
Wider die DDR-Relikte
Die deutsche Interessenpolitik war nicht zu stoppen. Eine schon jahrzehntelang diskutierte Rechtschreibreform bot sich nach der Wiedervereinigung Bonn als Hebel an, mit dem in der ehemaligen DDR die ideologisch gefärbten Kinder- und Schulbücher aus den Regalen der Bibliotheken und Buchhandlungen gekippt werden konnten.
Österreichs Lehrer dürfen sich ihren Doppelkorrekturstress gutschreiben als Beitrag zur deutschen Wiedervereinigung. Wer wollte sie nicht?
Die Rechtschreibung ist ab sofort nicht mehr so fixiert wie im alten Duden (Ausgabe 1991) und wie in der 1996 verkündeten Neuen Rechtschreibung. Der 2004 gegründeten "Rat für deutsche Rechtschreibung", mit Geschäftsstelle in Mannheim, setzte neue Freiheiten und Wahlmöglichkeiten in Kraft. Schülerinnen und Schüler, jetzt heißt es in Zweifelsfällen um diese Freiheiten kämpfen! Alle vier Schreibweisen sind korrekt: 90-er Jahre , 90er Jahre , Neunzigerjahre , neunziger Jahre . Man darf ebenso Acht geben wie acht geben . Allein erziehend ist so richtig wie alleinerziehend , Dank sagen wie danksagen und kennen lernen wie kennenlernen , selbstständig wie selbständig , Potenzial wie Potential . Man darf jemanden von weitem und von Weitem hören.
Rückkehr der Phantasie
Die neuen Varianten beim Getrennt- und Zusammenschreiben gehen auf den Tonfall des gesprochenen Worts ein. Schon beim Hineinhören in sich selbst merkt man, dass mit anderen Betonungen verschiedene Bedeutungen signalisiert werden: unterstellen , umfahren , überziehen , übersetzen , durchbrechen .
Es ist die Betonung, die uns sagt, ob einer (in der Schule) sitzenbleibt oder (im Wirtshaus) sitzen bleibt . Es kann einer höchstpersönlich erscheinen, um eine höchst persönliche Angelegenheit zu regeln. Zehn Jahre lang, bis zur "Gegenreform", wurde von den Rechtschreibrichtern das Ohr als Instanz nicht zugelassen, und es haben die Computer mechanisch getrennt, was zusammengeschrieben (bis 2006: zusammen geschrieben ) werden sollte.
Man beachte das Komma vor "und": Es kann, aber muss nicht gesetzt werden. Die Buchverleger und Nachrichtenagenturen haben sich vergebens wieder für ein verpflichtendes Komma bei der Reihung selbständiger Sätze mit und , oder , beziehungsweise , entweder - oder , nicht - noch ausgesprochen, denn es dient dem leichteren Verstehen. Sie schreiben nun nach ihrem eigenen Belieben. Wie auch der Großteil der Österreicher über 18.
Doch die Umgewöhnung auf neue Schreibweisen ist im Gange. Das Telephon weicht dem Telefon , das Photo dem Foto . Dass man Gämse statt Gemse schreibt, ist Philologen-Rechthaberei, aber keine Fahnenfrage. Nun sind wieder der Delphin neben dem Delfin , die Phantasie neben der Fantasie und aufwendig neben aufwändig zugelassen.
"Rau" schreiben
Schwer zu verschmerzen ist der Verlust des in der österreichischen gesprochenen Sprache hörbaren " h " am Ende von rauh . Nun schreibt man rau .
Die drei Konsonanten nebeneinander in Schifffahrt oder Stammmutter oder Missstimmung blasen sich optisch auf. Eine Faustregel verlangt das " ss " statt " ß "; doch nach einem langen Vokal oder Diphthong (Doppellaut wie " ei " oder " au ") bleibt das scharfe " ß ". Ein häufiger Fehler: Dass statt dass das geschrieben wird. Wieder zugelassen ist das Du mit großem Anfangsbuchstaben im Brief. Getrennt am Zeilenende wird das s-t , das ck hingegen bleibt ungetrennt.
Schreibenden von durchschnittlicher Duden-Treue war als Regel geläufig: Im Zweifelsfall klein! Die Reformer der 90er Jahre forcierten die Großschreibung. Doch ab sofort darf einem wieder etwas leid tun (statt Leid tun ), man kann kopf stehen (statt Kopf stehen ), ist pleite (statt Pleite ) und jemandem ist angst und bange (statt Angst und Bange ). Richtig sind ich gebe ihm recht und ich gebe ihm Recht . Geblieben sind Unschönheiten wie im Großen und Ganzen und im Voraus .
Alte Texte angleichen?
Seit vergangenem Herbst beobachten die deutschen Wörterbuchverlage Duden und Wahrig die Schreibgewohnheiten. Die Ergebnisse sind noch mager. Öfter wird Stopp statt Stop , Stepp statt Step , Tipp statt Tip geschrieben, sagt die Statistik. Eine Nachjustierung des Regelwerks 2006 wird frühestens in fünf Jahren spruchreif.
Ein heikles Thema packen Schriftsteller, Sprach- und Literaturwissenschafter sowie Verleger in der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung im September an: Wie wären Neuausgaben alter Texte den neuen Schreibweisen anzugleichen?