Präsident Erdogan weist Kritik der Europäer zurück - Druckmittel der Union beschränkt.
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Brüssel/Istanbul. "Behaltet doch eure Weisheiten für euch": Von der jüngsten Kritik aus Brüssel zeigte sich der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ungerührt. "Es kümmert uns nicht, was die EU sagt, oder ob sie uns als Mitglied akzeptiert", erklärte der Politiker bei einer Eröffnungsfeier in einer Ölraffinerie in der Nähe von Istanbul. Damit fällt seine Reaktion auf die Vorwürfe der Europäer noch heftiger aus als diese selbst.
Dabei ist auch in der EU der Unmut über die Razzien und Verhaftungen vom Wochenende unüberhörbar. Die türkische Polizei hatte Einrichtungen des in den USA lebenden islamischen Geistlichen Fethullah Gülen, der einst ein Verbündeter der Regierung Erdogans war, durchsucht und die Zeitung "Zaman" sowie den Fernsehsender Samanyolu ebenfalls ins Visier genommen. Unter den dutzenden Festgenommenen befanden sich der Chefredakteur des Blattes, der Direktor des Senders und weitere Journalisten.
Das ließ EU-Vertreter von einem "Angriff auf die Medienfreiheit" sprechen. Außenbeauftragte Federica Mogherini und der für Erweiterungsgespräche zuständige Kommissar Johannes Hahn, die erst in der Vorwoche auf Besuch in Ankara waren, erklärten, die Aktion sei "unvereinbar mit europäischen Standards", die die Türkei als Beitrittskandidatin doch erfüllen wolle. Und auch die Außenminister der EU hielten sich nicht mit Kommentaren zurück, als sie am Montag zu einem Treffen in Brüssel zusammenkamen.
Während sich der deutsche Ressortleiter Frank-Walter Steinmeier "mehr als besorgt" über die Ereignisse zeigte, forderte sein österreichischer Amtskollege Sebastian Kurz eine "klare Reaktion" der Union. Die Türkei stelle sich nämlich außerhalb "unserer europäischen Wertvorstellungen". Ähnliche Bedenken kamen aus dem EU-Parlament. Erdogan führe sein Land "in die falsche Richtung - weg von Europa", befand etwa der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten, Gianni Pittella.
Die Druckmittel der Europäer sind freilich begrenzt. Denn etliche Verhandlungskapitel der seit Jahren laufenden Beitrittsgespräche sind blockiert, und der schwelende Streit um die geteilte Mittelmeerinsel Zypern erleichtert Fortschritte auch nicht. Die Ambitionen der Regierung in Ankara, die Annäherung an die Union so zügig wie möglich voranzutreiben, sind mit den Jahren deutlich abgekühlt. Was einigen erweiterungsskeptischen Mitgliedstaaten durchaus recht ist.
Es gibt dennoch ein Anliegen, das der Türkei wichtig bleibt: die Aufhebung der Visapflicht für ihre Bürger bei Reisen nach Europa. Die derzeit geführten Gespräche über Erleichterungen wären daher eine Möglichkeit, Druck auf Ankara auszuüben. Das steht allerdings noch nicht zur Debatte. Der sogenannte Visa-Dialog sollte unabhängig von den Beitrittsverhandlungen betrachtet werden, meinte etwa Kurz.
Erdogan jedenfalls weist die Empörung über Verletzungen der Medienfreiheit zurück. Damit hätte die Polizeiaktion nämlich keineswegs zu tun. Vielmehr handelte es sich um eine Antwort auf eine "dreckige Operation" von Regierungsgegnern, die ihrerseits ein Angriff auf den Staat sei. Die Verhaftungen würden sich damit in eine Reihe von Festnahmen und Anklagen fügen, die seit Monaten eine Korruptions- und Abhöraffäre begleiten. Die Regierung beschuldigt die Bewegung Gülens, das Kabinett destabilisieren zu wollen.