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Neue Wohntypen braucht das Land

Von Julia Rumplmayr

Reflexionen

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Es waren für uns Kinder die längsten Sommer der Welt. Wir liefen die Wiese hinunter, jeder hielt eine Zehn-Schilling-Münze fest in der Faust verschlossen. So fest, dass wir noch später den Abdruck auf der Handfläche sehen konnten. Die zehn Schilling waren allerdings schwer verdient, beim Autowaschen oder beim Rasenmähen. Oder bei einem Straßenflohmarkt, wo wir windschiefe Basteleien an wohlmeinende Nachbarn verkauften.

Unser Wirtschaftssystem war jedenfalls sehr simpel und konsumfreudig - das frischverdiente Geld musste sofort in Waren umgewandelt werden. Unsere Wege waren damals kurz. Wir liefen zum Kaufhaus im Ort, kauften das neue Micky-Maus-Heft, Papier und Stift für eine Baumhausplanung, ein Eis ging sich auch noch aus. Wenn wir einmal mehr haben wollten, als wir gerade zahlen konnten, brachten wir das Geld nach, wenn wir das nächste Mal mit einer langen Liste zum Großeinkauf in den Ort geschickt wurden - oder die (meist geringe) Summe wurde uns mit einem Augenzwinkern erlassen.

Das kleine Kaufhaus hatte alles, was man brauchte. Überhaupt gab es im Ort alles, was fürs alltägliche Leben nötig war. In dem kleinen Mühlviertler Ort, von dem hier die Rede ist und der praktisch nur aus einer Durchfahrtsstraße besteht, gab es in den achtziger Jahren sogar noch zwei Kaufhäuser, zwischen denen die Bewohner wählen konnten. Außerdem einen Fleischhauer, ein Wirtshaus, in dem sich der Sparverein regelmäßig traf und die Männer im Gastgarten schon am Vormittag Bier tranken.

Verändertes Ortsbild

Die Großeinkäufe erledigte man damals noch zu Fuß. Allerdings hatte der kürzlich eröffnete Supermarkt im Nachbarort eine weitaus größere Auswahl und günstigere Angebote. Und mit dem Auto gelangte man genau so schnell dorthin wie zu Fuß ins Kaufhaus. In vielen Orten ist der Prozess veränderter Einkaufsgewohnheiten ähnlich verlaufen - zuerst kaufte man im neuen Supermarkt all das Exotische, was der Greißler nicht hatte. Die Einkäufe mit dem Auto zu transportieren, erschien schon bald so praktisch, dass man im örtlichen Kaufhaus nur mehr das besorgte, was man beim Großeinkauf vergessen hatte: Eier oder Milch. Und irgendwann kauften dann nur noch die alten Menschen aus dem Ort ein, die mit ihren geringen Ausgaben das Geschäft aber nicht tragen konnten. Unter solchen Umständen vermag die Nahversorgung nicht zu funktionieren - wie sehr sie einem abgeht, merkt man aber erst dann, wenn es sie nicht mehr gibt.

Einige Sommer später hatte sich das Ortsbild stark verändert, was freilich symptomatisch war für viele ländliche Gemeinden. Zuerst sperrte das eine Kaufhaus zu, dann fand das andere keinen Nachfolger. Die Jungen arbeiten großteils in der Stadt, die ohnehin nur 20 Minuten mit dem Auto entfernt ist. Der Fleischhauer ging ebenfalls ein, schließlich auch das Wirtshaus. Nun fehlte ein wichtiger Treffpunkt für die Ortsbewohner. Wer zu dieser Zeit durch den Ort fuhr, wurde von einer verlassenen Tankstelle begrüßt, ein Liter Diesel kostete auf deren Anzeigetafeln noch in den späten 1990er Jahren 7,80 Schilling. Die Fenster der Kaufhäuser waren verdreckt, das schmucke Fleischhauer-Häuschen verfiel zusehends. Sergio Leone hätte an der Kulisse seine Freude gehabt, in dieser Mühlviertler Staubwüste fehlten eigentlich nur die Revolverhelden.

Neue Attraktivität

Der Attraktivität der Gegend rundherum tat das jedoch kaum Abbruch, immer mehr junge Familien siedelten sich hier an. Aus weitläufigen Wiesen wurden nach und nach Bauparzellen, auf denen ein Einfamilienhaus nach dem anderen errichtet wurde; dieser Prozess hält immer noch an. Zum Arbeiten fährt man heute in die Stadt, zum Leben heim aufs Land.

Noch vor 100 Jahren hatten manche Sommerfrischler die paar Kilometer von der Stadt aufs Land mit der Bahn und großem Gepäck zurückgelegt, um bis Herbstbeginn im Urlaubsort, in der "Sommerfrische", zu bleiben. Mittlerweile gehört dieser Ort aber schon fast zum Speckgürtel der sich ständig ausdehnenden Stadt - die Wege sind kürzer geworden, die Transportmittel schneller, die Menschen mobiler.

In den vergangenen Jahren ist der Ort sozusagen in seine nächste Phase eingetreten - auch das ist paradigmatisch für die Entwicklung in vielen Orten am Land. Das alte, verdreckte Kaufhaus wurde aufwändig renoviert und ist ein Schmuckstück geworden. Darin befinden sich nun neue Wohnungen - Gemeinschaftspool inklusive. Die Fassaden vieler anderer Häuser wurden ebenfalls elegant restauriert.

Eine Ortsbewohnerin hat ein kleines Geschäft eröffnet, das wie ein urbaner Feinkostladen aussieht und alles Notwendige fürs alltägliche Leben bietet: Lebensmittel, Zeitungen und Gelegenheit zum Plaudern. Männer und Frauen sitzen heute vor diesem Geschäft zusammen und trinken Bier oder Fruchtsaft. Das Konzept funktioniert, wiewohl der Einkaufspark wenige Kilometer vor dem Ort mittlerweile amerikanische Ausmaße angenommen hat.

Auch in anderen Orten hat man sich hinsichtlich der Nahversorgung und der Wiederbelebung der Ortskerne auf die eigenen Beine gestellt. In der Gemeinde Kaltenberg im Mühlviertel etwa wurde nach dem Schließen des letzten Greißlers kein Nachfolger gefunden; die Kaltenberger haben daraufhin einen Verein gegründet und ein eigenes Geschäft eröffnet. Die Dorfbewohner haben Kapital vorgestreckt, das sie als Einkaufsgutscheine zurückbekommen. So ist nun das persönliche Anliegen von jedem Einzelnen, im Ortskaufhaus einzukaufen und es zu erhalten.

Nach diesem System funktioniert auch "S’Geschäft", das 2003 im oberösterreichischen Eidenberg eröffnet wurde und Vorbild für viele weitere Läden solcher Art wurde, auch in der Gemeinde Kaltenberg. Der Betreiber des Geschäfts arbeitet ehrenamtlich, die Bevölkerung steht hinter dem Projekt und weiß den Nahversorger zu schätzen.

Die Entwicklungen, die im Lauf der Zeit zur Entleerung der Ortskerne geführt haben, sind komplex - jeder Haushalt verfügt heute über (mindestens) ein Auto, die Landschaft wird immer zersiedelter, meist ist es günstiger, einen Neubau zu errichten, als einen Altbestand zu renovieren. Die traditionellen Strukturen im Ortskern sind nicht mehr attraktiv genug, stattdessen entstehen dort, wo früher Wiesen und Felder waren, weitläufige Einkaufszentren.

"Das Auto verschafft eine vermeintliche räumliche Unabhängigkeit, man erledigt alle Wege auf dem Gaspedal", erklärt Gerlind Weber, Vorstand am Institut für Raumplanung und Ländliche Neuordnung an der Wiener Universität für Bodenkultur. "Alle sind jung und mobil - im Alter schaut die Sache aber anders aus. Die Entwicklungen der letzten Jahre fallen uns jetzt auf den Kopf." Dass nun Ortsbewohner auf eigene Faust alte Strukturen wiederherstellen, sieht Weber positiv: "Das ist eine späte Einsicht, aber Not macht erfinderisch. Es braucht Bewusstseinsbildung, die Prozesse sind sehr schleichend vor sich gegangen."

Gerlind Weber arbeitet derzeit an einer Studie über die Wiederbelebung von Ortskernen und über die Revitalisierung von Kleinstadtzentren. "Small towns in transition" heißt ihr Forschungsprojekt, die Erkenntnisse aus der Untersuchung von Kleinstädten wie Enns oder Schärding lassen sich zum Teil auch auf ländliche Ortskerne umlegen, erklärt Weber. "Ein lebendiger Ortskern ist so wichtig wie das Herz im Körper des Menschen. Wenn es kräftig schlägt, trägt es die gesamte Gemeinde. Wenn nur die Extremitäten- wie Einkaufszentren in der Peripherie - belebt werden und das Herz schwach schlägt, geht viel Kraft verloren."

Problem Nahversorgung

Für die Lebendigkeit von Wohngebieten sind Nahversorger in Stadtzentren nicht so relevant wie in ländlichen Ortskernen: "Am Land spielt die Nahversorgung eine große Rolle. Die neue Siedlungskultur geht mit dem Niedergang der Nahversorger Hand in Hand. Zuerst verschwindet der Nahversorger, dann das Wirtshaus, das Postamt, schließlich wird die Schule geschlossen, all das ist eine Folge des demografischen Wandels", sagt Weber. "In Streusiedlungsgebieten ist das Einkaufen an das Auto geknüpft, der Höhepunkt ist der Wochenendausflug ins Shoppingcenter. Es gibt eine Sucht nach Unterhaltung, das eigene Dorf bietet zu wenig Abwechslung."

"Wenn das Herz zu schwächeln beginnt, entstehen Hybride", erklärt Weber weiter. Diese Hybride - oft entwickeln sie sich am Rand der Stadt oder zwischen Ortskernen - nennt man auch Zwischenstädte, sie bilden sich um künstliche Strukturen wie Einkaufszentren oder Autobahnkreuze. "Die Grenzen zwischen Stadt und Land verschwimmen. Wir haben einen Siedlungsbrei ohne historisch gewachsene Struktur", so Weber.

Die verwaisten Ortskerne sprechen auch in dieser Hinsicht eine klare Sprache, immer mehr Menschen zieht es in die Städte. Das Schlagwort "Landflucht" ist seit Jahrzehnten in aller Munde. Aktuelle Zahlen belegen, dass die Bevölkerung in den Städten und in den Umlandbezirken am stärksten wächst. Viele Menschen ziehen ihrer Arbeit nach, denn ihnen fehlt in ländlichen Gemeinden der Komfort des urbanen Lebens - und sie vermissen die Vorteile, die das Landleben mit sich bringt, nicht. Also siegt die Stadt. "Die größten Zuwächse an Erwerbspersonen wird es nahezu ausschließlich in und um die großen Städte geben", heißt es in einem Bericht der Statistik Austria vom Juni 2011.

Die Zahl der Bewohner in den Städten und deren Speckgürteln nimmt kontinuierlich zu. Dennoch gibt es immer noch eine große Sehnsucht nach dem Leben auf dem Land: dieses ist mit Träumen verbunden, Utopien knüpfen sich daran, so ein Leben bedeutet Nähe zur Natur, Freiheit, Weite, Horizont. Für viele verbinden sich damit auch Kindheitserinnerungen - mit verklärtem Blick sprechen Städter davon, wie sie einst Kirschen von den Bäumen gepflückt, im Bach Staudämme gebaut und einmal sogar Kühe gemolken haben. Und es geht um Lebensqualität. Am Land sind die Menschen freundlicher und hilfsbereiter, die Lebensmittel, so sie direkt vom Bauern kommen, gesünder. Am Land sollte "alles so bleiben, wie es einmal war".

In Wahrheit ist freilich nichts so geblieben, wie es einmal war - manches hat sich verbessert, einiges hat sich verschlechtert. Amerikanisierte Einkaufszentren, Industrieparks und Verhüttelung prägen vielerorts das Bild des Landlebens. Vor allem aber haben sich die Bedürfnisse und Lebensumstände verändert: Die Zahl der älteren Menschen und die Zahl der Singlehaushalte steigen, im Mühlviertel etwa wird es 2030 um 37 Prozent mehr Einpersonenhaushalte geben als heute, im Wiener Umland-Nord um 33 Prozent mehr, heißt es im Bericht der Statistik Austria. Alte Menschen, Singles, Alleinerzieher und Patchworkfamilien brauchen andere Wohnformen als das klassische Einfamilienhaus, das am Land immer noch vorherrschend ist.

Die Wiener Architektin Sabine Pollak ist die Herausgeberin eines Buchs, das sich mit Wohnutopien auf dem Land beschäftigt und das Leben in ruralen Gebieten reflektiert. "Räumliche Szenarien für ein Wohnen am Land hinken demografischen wie soziologischen Studien weit hinterher - und ein Nacharbeiten ist angesagt", schreibt Pollak im Vorwort. "Die Freuden des Landlebens", kürzlich erschienen im Sonderzahl Verlag, bietet Alternativen zum Einfamilienhaus-Einheitsbrei und zeigt, was man gegen zersiedelte Landschaften und ausgestorbene Dörfer, vor allem in Niederösterreich, tun könnte.

Kein Masterplan

"Man hat die Entwicklung einfach passieren lassen", sagt Sabine Pollak im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". "Man hat viel drauf los gebaut und viel umgewidmet. Aber ohne Masterplan." Wer sich Luftbilder von ländlichen Gebieten, etwa in Google Earth, ansieht, erkennt noch die gewachsenen Dorfstrukturen. Gegen die Ortsränder zu folgen stets gleich große Parzellen mit gleich großen Häusern, eines nach dem anderen wie planlos in die Landschaft gesetzt. "Das Haus an sich, so wie es jetzt üblich ist, wird irgendwann nicht mehr leistbar sein. Es ist auch nicht mehr wirklich notwendig, wenn es die große Familie nicht mehr gibt", meint Pollak. "Man muss die Prognosen ernst nehmen. Man weiß, dass es in Zukunft hauptsächlich Singles geben wird, Alleinerzieherinnen, alle Arten von Zusammenleben - aber nicht mehr die klassische Familie. Das wird uns irgendwann überrollen."

Dass die Bundesländer trotz dieser gesellschaftlichen Fakten noch immer Einfamilienhäuser fördern, versteht Pollak nicht. "Man müsste ganz andere Wohntypen fördern, wo manche Dinge aus der Wohnung ausgeklammert werden und gemeinsam erlebt werden können." Wohnungen am Land sind aber für viele immer noch ein Tabuthema, der Traum vom Einfamilienhaus immer noch stark und weit verbreitet. "Das Einfamilienhaus hat viel mit Geschichte und Statussymbolen zu tun. Früher haben am Land nur arme Leute in Wohnungen gewohnt. Es muss also ein Haus sein, mit einem Garten rundherum, einer Garage mit mindestens einem Auto und Thujenhecke", sagt Pollak. "Dazu kommt, dass die Grundstücke am Land unglaublich billig sind. Also fängt man einfach an zu bauen. Und was dabei entsteht, ist teilweise ein furchtbares Schlamassel."

Die Projekte, welche die Architekten in dem Buch vorstellen, widmen sich folgerichtig nicht solitären Einfamilienhausträumen, sondern gemeinschaftlichen Modellen, wo die Idee von Koopera-tion und Solidarität wirksam wird, von Modellen, die den Anforderungen von Alleinerziehern, Witwen, Singles oder Patchworkfamilien entsprechen. Das Modell "Bottom Up" von Klaus Michael Scheibl etwa verlegt das Wohnen ins Unterirdische. Die Landschaft oben bleibt erhalten, Tageslicht dringt durch Innenhöfe und Ausschnitte ins Innere ein. Einheiten können abgetrennt, erweitert und wieder zusammengelegt werden, je nach Lebenssituation.

Wenn man über die Funktion des Einfamilienhauses nachdenken kann, könnte man aber ja auch die Frage der Ortskerne neu überdenken - wie sieht die Architektin Sabine Pollak diese Problematik? "Was in den Ortskernen wirklich geschehen soll, ist schwierig zu sagen. Der Ausbau von leer stehenden Häusern ist unheimlich komplex und viel komplizierter als jeder Neubau. Rezepte zu finden ist nicht einfach, wichtig wäre es aber schon."

Es müsse ja nicht unbedingt der Nahversorger sein, der wieder Leben in den Ort bringt, es könnten auch Vereinslokale sein, "eine Bibliothek, ein Kino einer anderen Art, man müsste eben erfinderisch sein". Gibt es Zukunftsvisionen? "Es wäre interessant, einen ganz neuen Ort zu planen, einen, den es noch nicht gibt. Vielleicht sind in ein paar Jahrzehnten aber die Ortskerne belebt und die Einfamilienhäuser stehen leer! Das wäre vielleicht ein Szenario."

In dem kleinen Mühlviertler Ort an der Durchfahrtsstraße ist es einstweilen noch fast genau so wie in unseren Kindheitserinnerungen. Die Vögel zwitschern, eine Mischmaschine rührt Beton an, auf der alten Rodelwiese wird ein neues Haus gebaut. Und vielleicht laufen gerade Kinder, ein paar Euro-Münzen in der Hand, hinunter in den Ort - mitten im längsten Sommer der Welt.

Literatur:

"Die Freuden des Landlebens. Zur Zukunft des ruralen Wohnens". Hrsg. von Sabine Pollak, Sonderzahl Verlag, Wien 2011.

Julia Rumplmayr, geboren 1979 in Wien, lebt als freie Journalistin in Linz.