Griechischer Antrag auf Hilfsprogramm des Rettungsschirms ESM als "brauchbar" eingestuft.
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Straßburg. Etwas anderes hat Martin Schulz gar nicht erwartet. "Wir wussten, dass die Debatte emotional verlaufen wird", meinte der Präsident des EU-Parlaments und nahm Zwischenrufe gelassen hin. In Straßburg haben sich die EU-Abgeordneten zu ihrer Plenarsitzung versammelt; auf der Tagesordnung stand eine Diskussion über die Krise in Griechenland. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker war angereist, Ratspräsident Donald Tusk ebenfalls. Doch den Applaus bei seinem Eintreffen erhielt ein anderer. Der griechische Premier Alexis Tsipras wurde im Saal mit Beifall empfangen, in den sich einige Pfiffe mischten.
Noch am Vorabend waren die drei mit anderen Spitzenpolitikern in Brüssel zusammengesessen. Bei einer Sondersitzung der Staats- und Regierungschefs, die auf ein Treffen der Finanzminister der Eurozone gefolgt war, erörterten sie Möglichkeiten eines Kompromisses im Schuldenstreit. Für Sonntag ist der nächste Sondergipfel angesetzt, der vierte innerhalb von drei Wochen. Mittlerweile hat Griechenland einen Hilfsantrag beim Euro-Rettungsschirm ESM gestellt; das Programm soll eine Laufzeit von drei Jahren haben. Die Summe des gewünschten Kredits war aber zunächst unklar. Doch wurde das Ansuchen Athens in der Euro-Arbeitsgruppe schon als "brauchbar" eingestuft. Das ist die Voraussetzung dafür, ein neues Hilfspaket auszuarbeiten. Dem müssen jedoch alle Partner und einige nationale Parlamente zustimmen. Im österreichischen Nationalrat legt Bundeskanzler Werner Faymann am heutigen Donnerstag eine Erklärung zu Griechenland ab.
"Zur Rezession verdammt"
Ebenfalls heute will die Regierung in Athen schon den nächsten Schritt setzen, indem sie ihre Vorschläge zu einer Einigung mit den internationalen Geldgebern präsentiert. Schon kurz danach könnten die Finanzminister des Euroraums darüber beraten. Im EU-Parlament in Straßburg machte Tsipras aber lediglich Andeutungen dazu. Sein Ziel sei eine gerechte Lastenverteilung und ein tragfähiges Wachstumsprogramm. Eine Neuordnung der Staatsschulden und effiziente Verwaltung seien ebenso nötig wie der Kampf gegen Korruption und Vetternwirtschaft.
Gleichzeitig übte der Premier aber Kritik an den rigiden Auflagen der EU, die ein Volk und eine Volkswirtschaft zur Rezession "verdammt" haben. Griechenland sei zu einem "Versuchslabor für die Sparpolitik" geworden - und der Versuch sei gescheitert. Die Griechen hätten sich redlich bemüht, den Anforderungen zu entsprechen, versicherte Tsipras: "Aber jetzt sind wir am Ende unserer Belastbarkeit angelangt." In keinem anderen Land, das die internationalen Gläubiger unterstützt haben, sei das Programm "so streng und so lang" gewesen.
Doch räumte der Politiker auch ein, dass "nicht alles Übel" von außen komme. Der griechische Staat selbst hätte zu lange auf Klientelismus und Korruption geruht; Reiche hätten sich am Steuersystem zu wenig beteiligt. Die Notwendigkeit von Reformen wolle die Regierung daher nicht leugnen - aber wie sie die Steuerlast verteilt, müsse ihr überlassen bleiben. Auf jeden Fall seien untere und mittlere Gesellschaftsschichten zu berücksichtigen.
Wie unterschiedlich jedoch in Europa die Vorstellungen über das weitere Vorgehen sind, machte einmal mehr die Debatte der EU-Mandatare deutlich - in der sich ungewöhnliche Allianzen zeigten. Denn Sympathie für Tsipras bekundeten nicht nur linke Abgeordnete, sondern auch welche von Rechtsparteien. So lobten der Vorsitzende der rechtspopulistischen britischen Partei Ukip, Nigel Farage, und die Französin Marine Le Pen von Front National die griechische Regierung für den "Mut", in einem Referendum die Bevölkerung über die Bereitschaft zu den von der EU geforderten Sparmaßnahmen zu befragen. Und sie ermutigten sie dazu, den Euroraum zu verlassen.
Harsche Kritik kam hingegen vom Fraktionsleiter der Europäischen Volkspartei. Manfred Weber warf Tsipras vor, Vertrauen zu verspielen und sogar der eigenen Bevölkerung die Wahrheit vorzuenthalten. "Sie lieben die Konfrontation, wir den Kompromiss", rief der Deutsche dem Griechen zu. "Sie lieben das Scheitern, wir den Erfolg."
Vom Scheitern wollte Gianni Pittella wiederum nicht sprechen. Der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten warnte stattdessen vor einem Ausscheiden Griechenlands aus der Währungsgemeinschaft. Das sei nicht zu akzeptieren. Als Gegenmaßnahme regte Pittella eine europäische Kreditgeber-Konferenz an, bei der auch ein Schuldenschnitt thematisiert werden sollte.
Wie dringend ein Kompromiss sei, machte Ratspräsident Tusk klar. Ohne eine Einigung bis Ende der Woche "werden wir in vier Tagen in einem anderen Europa aufwachen", sagte der Pole. Daher seien die aktuellen Gespräche ein allerletzter Weckruf - für Griechenland und für die EU.