EU-Spitzenpolitiker fordern zusätzliche Anreize für mehr Wirtschaftswachstum.
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Brüssel/Straßburg. Mehr als eine Zustandsbeschreibung: Wenn EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am morgigen Mittwoch vor das Plenum des EU-Parlaments in Straßburg tritt, wird genau das von ihm erwartet. In seiner Rede zur Lage der Union wird er sich denn auch nicht auf eine Aufzählung aktueller Probleme beschränken. Er muss die Richtung skizzieren, in die sich die Gemeinschaft in naher Zukunft bewegen soll. Von Investitionen wird daher gesprochen werden, von Perspektiven für Jugendliche, von mehr Sicherheit für die Europäer - und das kann sowohl den gemeinsamen Grenzschutz betreffen als auch eine verstärkte Form der militärischen Zusammenarbeit.
Denn der Zustand der Union ist nicht der beste, und das hat Juncker bereits im Vorjahr festgestellt. Damals hatte gerade die Flüchtlingskrise den Konflikt um das nächste Hilfsprogramm für Griechenland abgelöst. Mittlerweile ist zwar die Zahl der Schutzsuchenden gesunken, doch an der Umsetzung ihres Plans zur EU-weiten Verteilung der Migranten ist die Kommission bisher gescheitert. In der Zwischenzeit hat auch das Brexit-Referendum stattgefunden, bei dem sich eine Mehrheit der Briten gegen einen Verbleib in der EU ausgesprochen hat.
Auch wenn es noch an konkreten Vorgaben fehlt, wie mit den Konsequenzen des Austritts eines - gewichtigen - Mitglieds umzugehen ist, müssen sich die EU-Institutionen bereits Gedanken über künftige Reformen machen. Das wird nicht nur für Juncker ein Thema sein, sondern auch für die Staats- und Regierungschefs, die einander am Freitag in Bratislava treffen. Bei dem informellen Gipfel wird Großbritannien schon nicht vertreten sein.
So scheint es unvermeidlich, dass sich die Gewichte in der EU verschieben. Alte Bündnisse könnten gestärkt, neue geschmiedet werden. Wie sehr das einst traditionelle, mittlerweile geschwächte Tandem Paris-Berlin den Kurs bestimmen wird, ist noch offen. Aber die Dominanz Deutschlands erregt schon jetzt so manchen Unmut. Aus Südeuropa kommt immer wieder Kritik an der rigiden Sparpolitik, und in Osteuropa werden die Berliner Vorschläge zum Umgang mit Flüchtlingen abgelehnt.
Doch auch andere Länder wollen ihre Ideen zur Weiterentwicklung der EU einbringen. Dazu gehört ebenfalls Österreich. In einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" fordert Bundeskanzler Christian Kern Änderungen in der europäischen Wirtschaftspolitik, die sich zu sehr auf Sparprogramme konzentriert habe. Deren schwerwiegende Auswirkungen seien nämlich "systematisch unterschätzt" worden. So hätten viele Menschen "nachhaltig unter dieser Politik gelitten, ebenso wie ihr Glaube an das Wohlstandsversprechen der europäischen Einigung".
"Vertrauen zurückgewinnen"
Der Sozialdemokrat räumt zwar ein, dass es nicht um die Bekämpfung der Globalisierung und des Freihandels gehen könne. Doch müssten die Europäer vor den sozialen Verwerfungen geschützt werden. "Das verlorene Vertrauen in die Fähigkeit, vor allem aber in den politischen Willen der EU, diese Schutzfunktion zu erfüllen, müssen wir rasch zurückgewinnen", schreibt Kern.
Der "neue Pfad" könne laut dem Bundeskanzler nur über Investitionen führen, die die Konjunktur beleben. Damit weiß Kern sich im Einklang mit etlichen anderen Regierungschefs und der EU-Kommission, die bereits einen entsprechenden Fonds einrichten ließ. Der soll Investitionen im Wert von 315 Milliarden Euro generieren.
Das aber reicht nach Ansicht Kerns bei weitem nicht aus. Und selbst die Verdopplung der Mittel wäre wohl nicht genug. Denn auch wenn dies einen Investitionsschub von 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU jährlich bedeuten würde, sei dies im Vergleich zum Konjunkturprogramm der USA etwa bescheiden. Dort wurden 2009 und 2010 rund 2,8 Prozent mobilisiert.
In der EU ist eine Verdoppelung aber kaum in Sicht. Eine Ausweitung jedoch sehr wohl. So wird Juncker wohl verkünden, dass der Investitionsfonds in den kommenden Jahren noch weitergeführt wird - über 2018 hinaus, wie es zunächst angelegt war. Spekuliert wurde über erhoffte Investitionen im Wert von 500 Milliarden Euro. Die Kommission verweist jetzt schon auf die Erfolge des Projekts, das vor einem Jahr begonnen hat: 116 Milliarden Euro seien bisher aktiviert worden.
Die Pläne sollen bereits bei einem Treffen der EU-Finanzminister vor wenigen Tagen zur Sprache gekommen sein. Und laut Beteiligten sind sie durchaus auf Zuspruch gestoßen.
Junckers Überlegungen werden auch zwei Tage später bei der Zusammenkunft in Bratislava eine Rolle spielen. In konkrete Initiativen werden sie aber beim Spitzentreffen wohl kaum münden.
Flüchtlingsgipfel in Wien
Allerdings werden Staats- und Regierungschefs aus elf Ländern schon Ende der kommenden Woche die Gelegenheit haben, zumindest ein Thema erneut zu erörtern. Kern lädt zehn Amtskollegen zu einem Flüchtlingsgipfel nach Wien ein. Daran teilnehmen sollen Vertreter Deutschlands, Griechenlands, Sloweniens, Kroatiens, Serbiens, Albaniens, Ungarns, Bulgariens, Rumäniens und Mazedoniens. "Wir brauchen eine neue Abstimmung darüber, wie die Grenzen in Europa bewacht werden sollen", sagte Kern bei einem Besuch in Ljubljana.
Im Vorfeld gibt es jedoch Unstimmigkeiten. So reagierte Slowenien mit Empörung auf die Rückführung von neun Flüchtlingen durch die österreichische Polizei. Auch nach Ungarn möchte Österreich Schutzsuchende zurückschicken - und droht Budapest mit einer Klage.