Im Jänner findet ein deutsch-französischer Sondergipfel statt. Kanzler Gerhard Schröder und Staatspräsident Jacques Chirac wollen über die Folgen des EU-Reformgipfels in Nizza beraten. Die dabei offen zu Tage getretenen Spannungen sollen bei dem von Chirac angeregten Treffen ausgeräumt werden. Ein genauer Zeitpunkt und Ort sind noch unbekannt.
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"Die deutsch-französische Achse gibt es nicht mehr", meint Heinrich Neisser. Er war als Beauftragter von Kanzler Wolfgang Schüssel im Konvent vertreten, der den Eu-Grundrechtekatalog ausgearbeitet hat. Die Idee der Charta sei zu Beginn der rot-grünen Koalition in Deutschland 1999 von Außenminister Fischer ventiliert worden. Böse Zungen hätten behauptet, Kanzler Schröder habe ein Projekt gebraucht, mit dem er politisch vorpreschen habe können - und um der deutsch-französischen Achse "neuen Impuls" zu geben, so Neisser.
"Unersetzbar" sei die Beziehung Deutschland-Frankreich. "Ohne dieses Paar ist keine europäische Integration möglich", ist der konservative französische Senator Hubert Haenel überzeugt. Der Elsässer geht sogar so weit, dass er das "Kernstück Europas" im Rheinland ansiedelt. Doch die Beziehung zwischen den beiden Nachbarländern sei "abgekühlt", meinte Ex-Premierminister Raymond Barre. Frankreich müsse anerkennen, "dass das wiedervereinte Deutschland das größte europäische Land ist", erklärte Barre gegenüber der Tageszeitung "Le Figaro". Der deutsche Kanzler habe Frankreich auch nicht verstimmen wollen.
Gerhard Schröder fühlte sich in Nizza angesichts einer Bevölkerung von 82 Mill. Einwohnern (gegenüber 60 Mill. Franzosen) bei den Reformvorstellungen sichtlich in komfortablerer Position als Chirac. Dennoch bemühte sich der Deutsche, die Spannungen mit Frankreich in den Hintergrund zu rücken. "Wäre das ein bilaterales Problem, könnte man sich schnell einigen", erklärte Schröder zur Stimmgewichtung. Gleichzeitig ätzte er: "Wir haben keine Akten gefunden", was eine Vereinbarung Konrad Adenauers mit Charles de Gaulle bzw. Helmut Kohls mit Francois Mitterrand betrifft, dass beide Länder immer die gleiche Stimmgewichtung haben sollten. Darauf hatte sich die einstige "Grande Nation" immer wieder berufen.
Letztlich ist ein Kompromiss herausgekommen, der die EU-Mitglieder zufriedenstellte - der das Entscheidungsprozedere aber nicht gerade einfacher macht. Bei Mehrheitsbeschlüssen wird künftig die Bevölkerungszahl auf Antrag eines Mitgliedstaates überprüft; die Beschlüsse sind erst gültig, wenn 62 Prozent der EU-Bevölkerung dafür stimmen.
"Wir wollen kein deutsches Europa", bekräftigte der deutsche Außenminister in der "Süddeutschen Zeitung". Nur: Der demographische Faktor müsse schon eine Rolle spielen. Beim außerplanmäßigen Treffen in diesem Monat gebe es "nichts aufzuräumen, sondern fortzuentwickeln", so Joschka Fischer. "Deutschland und Frankreich bilden historisch und aktuell das Schwungrad für Europa." Frankreich bleibe für Deutschland der wichtigste europäische Partner.