Das Gute an unserer postmodernen Form von Politik bisher war, dass sie allem Erhabenen jegliches Pathos gründlich ausgetrieben hat. Allenfalls für kurze Momente naiver Selbstvergessenheit wurde diese Tatsache verdrängt - etwa bei der enthusiasmierenden Rhetorik des Präsidentschaftskandidaten Barack Obama. Als Präsident, der um jede Stimme im Kongress feilschen muss, klingen dieselben Parolen mittlerweile hohl und abgegriffen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 14 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Europa war der Wille zur Naivität, wie ihn die USA auszeichnet, im Laufe der Jahrhunderte abhanden gekommen. Unseren Demokratien war jegliches Pathos meist ziemlich wesensfremd. Ausgenommen davon war allerdings Frankreich, dessen Politiker das Erbe der Revolution noch immer in ihren Adern pulsieren zu spüren glauben.
Inmitten der Krise scheint es mit dem Pathos-Verzicht jedoch vorbei zu sein. Ein neuer Wille zur politischen Naivität macht sich breit. Wer sachpolitisch gezwungen ist, im Trüben zu fischen, muss sich nämlich zumindest mit moralischen Motiven rechtfertigen. Die Frage, ob die eingeschlagenen Wege auch bei der Lösung der Probleme zielführend sind, ist da nur zweitrangig. Korrigieren und Revidieren kann man ja später immer noch.
Überall in Europa steht derzeit im Vordergrund, den bei den Wählern verlorenen Kredit möglichst rasch - und auf jeden Fall vor der Konkurrenz - zurückzuerobern. In Österreich etwa betitelt aktuell die SPÖ das Konterfei ihres Kanzlers mit "Zeit für Gerechtigkeit" und die FPÖ lässt ihren Obmann "endlich Gerechtigkeit" fordern. Die anderen Parteien werden demnächst sicher nachziehen.
Auf den ersten Blick spricht natürlich nichts gegen die Forderung nach mehr Gerechtigkeit in der Politik. Das Problem ist nur, dass damit Erwartungen geweckt werden, denen die Politik unmöglich entsprechen kann. Das Ergebnis wird bloß noch mehr Bürger-Frust mit dem Politikbetrieb sein.
Vielleicht wäre Bescheidenheit die klügere Alternative zum großspurigen Griff in die Werte-Kiste. Heilsversprechen sind nicht Sache aufgeklärter Politik, sondern die Suche nach und Umsetzung von praktikablen Lösungen für bestehende Probleme. Klingt zwar unsexy, ist aber ehrlich. Und das soll ja bekanntlich am längsten währen.