Harvard-Chemiker Daniel Kahne über Antibiotikaresistenzen und wirtschaftliche Interessen der Pharmaindustrie.
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"Wiener Zeitung": Ihr Labor verfolgt einen interdisziplinären Ansatz. Zellbiologen, Molekularbiologen und Biochemiker schaffen Grundlagen für neue Medikamente. Woran arbeiten Sie als Chemiker?Daniel Kahne: Ich wende mich der Biologie zu. Alle Probleme, die wir bearbeiten, sind Probleme der Biologie - also der Chemie in den Zellen. Mich interessiert, wie sich gramnegative Bakterien aufbauen. Eine lebende Zelle ist ein dreidimensionales Objekt, das aus komplizierten Molekülen besteht, deren Aufbau wir verstehen wollen, um Ansatzpunkte für neue Antibiotika zu finden.
Was sind gramnegative Bakterien?
Die Gram-Färbung ist eine vom Bakteriologen Hans Christian Gram entwickelte Methode zur differenzierenden Färbung von Bakterien in der mikroskopischen Untersuchung. Sie ermöglicht es, Keime in zwei Gruppen einzuteilen - grampositive und gramnegative Bakterien. Die Gruppen unterscheiden sich im Aufbau der Zellwände. Die Gram-Färbung dient auch der Diagnose: Wenn ein Arzt das Gramverhalten kennt, kann er die richtige Therapie verabreichen.
Und was bewirken die unterschiedlichen Zellwände?
An den Zellwänden grampositiver Bakterien haftet im Zuge der Diagnose ein basischer Farbstoff und sie werden blau. An den Zellwänden gramnegativer Keime haftet der Farbstoff nicht, weil dieser Typus eine zweite Membran besitzt, die dies verhindert. Die Zellwand fungiert als Gerüst für diese äußere Schutzhülle, die sie wie ein Exoskelett umgibt. Das Exoskelett verhindert nicht nur, dass die Farbe haftet, sondern auch, dass Antibiotika eindringen. Wir untersuchen jene Proteine, die für den Aufbau dieser zweiten Schutzhülle zuständig sind. Wenn wir mehr über sie lernen, könnten wir Präparate finden, die den Aufbau verhindern oder die Schutzhülle löchrig machen und den gramnegativen Keim zerstören.
Wie nahe sind Sie diesem Ziel?
Zunächst wollen wir verstehen, was diese Bakterien-Zellen zum Leben benötigen. Keine Zelle ist lebensfähig ohne intakte Hülle und gramnegative Organismen müssen sich sogar mit zwei Membranen schützen, weil sie in Umgebungen leben, die grampositive Organismen nie aushalten würden. Wir verbringen viel Zeit mit grundlegenden Fragen, wie etwa der Zahl der Proteine, die die Struktur aufbauen. Wir müssen das Problem in seinem Gesamtumfeld betrachten, die intakte Zelle verstehen und einzelne Bausteine entfernen, um zu sehen, wie sie unter geänderten Umständen reagiert.
Wie verhält es sich mit gefährlichen Infektionen, an denen beide Keimtypen die Schuld tragen?
Solche Infektionen können sich in den Atemwegen ansiedeln oder Entzündungen bei schweren Verbrennungen hervorrufen und in die Blutbahn gelangen. Gegen sie helfen eigentlich nur Breitband-Antibiotika, wie die Betalaktame, die auf das in den 1940er Jahren entdeckte Penicillin zurückgehen. Breitband-Antibiotika wären das Beste dagegen, aber wir haben seit Jahrzehnten keine neuen Wirkstoffe dieser Art entdeckt. Stattdessen haben wir Medikamente entwickelt, die nur einen Keimtypus abtöten. Diese Forschung brachte neue Mittel gegen grampositive Infektionen wie MRSA, aber nicht gegen gramnegative Infektionen, weil die Außenmembran so schwer zu durchdringen ist.
Entstehen immer mehr Antibiotikaresistenzen, weil wir ihnen immer das gleiche Gift verabreichen?
Antibiotikaresistenzen entstehen in allen Bakterien, aber je weniger Antibiotika es gegen gramnegativ-Infektionen gibt, desto mehr Resistenzen werden wir haben. Manche Keime sind besonders gefährlich, weil sie gegen vorhandene Medikamente immun geworden sind, andere sind von Natur aus resistent. Ein großes Problem bakterieller Infektionen mit resistenten Keimen ist, dass sie weitergegeben werden, wodurch die immunen Keime zahlenmäßig immer mehr werden.
Warum gibt es nur wenige neue Antibiotika, wo sie doch offenbar benötigt werden?
Neue Antibiotika werden deswegen selten entwickelt, weil sie zu wenig Geld bringen. Seit vielen Jahren lassen große Pharmafirmen die Finger davon, weil bereits mehrere Medikamente zur Heilung von Infektionen existieren. Die Pharmafirmen könnten nicht allzu viel pro Patient verdienen, weil der Wettbewerb die Preise drückt. Bei neuen, spezifisch wirkenden Antibiotika zerstört zudem eine Resistenz das gesamte Geschäft.
Auch Tumore können resistent gegen Therapien werden. In die Krebsforschung wird jedoch sehr viel investiert. Warum dieser Unterschied?
Bakterielle Infektionen sind ansteckend. Die Keime - resistent oder nicht - werden weitegegeben, befallen ansonsten gesunde Individuen und wandern von Wirt zu Wirt. Wenn jemand Krebs hat, kann die Resistenz des Tumors nicht weitergeben werden, denn Krebs ist eine genetische Störung des Wirts. In der Krebsforschung zerstören Resistenzen somit nicht das Geschäft, sondern den Patienten.
Wirksame Medikamente gegen die Viruserkrankung Ebola wurden nicht klinisch getestet, weil es zu wenige Patienten gab. Ist Geld auch der Grund, warum es kein neues Breitband-Antibiotikum gibt?
Das ist ein Teil des Grundes. Der andere Teil ist, dass die Außenmembran eines gramnegativen Keims schwieriger zu durchbrechen ist als die Blut-Hirnschranke beim Menschen. Es gibt viel zu wenige Chemikalien, die das können. Wir benötigen daher neues, gutes chemisches Material.
Ich selbst wünsche mir ein neues Breitband-Antibiotikum, das beide Arten von Keimen abtötet. Die Targets, die wir in unserer Gruppe überprüfen, existieren in allen Bakterien. Wenn ein Wirkstoff über die Zellwand eindringen kann und in einem Organismus funktioniert, dann hat er das Potenzial, zu einem neuen Breitband-Antibiotikum zu werden. Natürlich ist das nicht leicht und es ist gut, dass diese Arbeit in akademischen Händen ist, wo es keinen ökonomischen Druck gibt und man einfach dort forschen kann, wo der klinische Bedarf liegt. Es gibt klar einen Bedarf im Bereich der Antibiotika-Resistenzen, den auch die Pharmafirmen langfristig sehen müssten: Je mehr Resistenzen entstehen und je weniger Medikamente es gibt, desto größer wird auch der Markt.
Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang Antibiotika in Futtermitteln?
Das ist ein Riesenproblem. Antibiotika werden ins Futter gemengt, weil die Tiere dadurch schneller wachsen und größer werden. Diese Praxis erhöht die Chance, dass Bakterien immun werden, enorm. Etwa kam die Immunität von Staphylokokken gegen das - vormals sehr effektive - Antibiotikum Vancomycin auf diese Weise zustande. Beispiel: Antibiotika-Futter verlässt den Magen-Darmtrakt eines Huhns. Mit den Exkrementen landen die Antibiotika im Boden, wo ebenfalls Bakterien wohnen. Jetzt kämpfen die Bodenbakterien ums Überleben und verändern sich langsam genetisch, sodass sie resistent werden. Wenn dann die Bäuerin im Garten arbeitet und sich dabei am Finger verletzt, können resistente Bakterien aus dem Boden in ihre Wunde gelangen, was eine Infektion zur Folge hat, die ihrerseits ansteckend ist, und der genetisch veränderte Keim wird weitergegeben. Verschiedenste Aspekte sprechen also dafür, dass wir evaluieren, was wir tun. Allerdings kommen wir nicht überein, Antibiotika aus Futtermitteln zu verbannen, weil die Pharmafirmen dafür sind, da sie so mehr von dem Stoff verkaufen kann.
Würde ein neues Breitband-Antibiotikum die Kette unterbrechen?
Ich meine ja, aber ich bin in der Minderheit. Viele Forscher und Pharmavertreter sind für spezifisch wirkende Antibiotika, weil sie leichter herzustellen sind und die Patentlaufzeit sich daher länger ausschöpfen lässt: Man muss nur einen Wirkstoff gegen einen einzigen Organismus finden. Bakterien unterscheiden sich stärker voneinander als wir uns von einer Kartoffel, weil es sie in der Evolution schon viel länger gibt. Somit ist es schwer, zentrale Pfade zu finden, die alle Keime abtöten. Nur die Zellwand haben alle Bakterien gemeinsam. Deswegen untersuchen wir die Mechanismen zum Aufbau der Membran. Auch die Tatsache, dass Antibiotika umso effektiver sind, je früher sie verabreicht werden, spricht für ein neues Breitband-Antibiotikum. Es wird effektiver sein und Pharmafirmen mit Geld interessieren, denn selbst wenn ein Keim resistent wird, würden nicht alle Franchise-Betriebe des Unternehmens beschädigt.
Daniel Kahne (53) ist Professor für Chemie, Chemische Biologie, Molekular- und Zellbiologie an der US-Universität Harvard in Cambridge, Massachusetts. Er wurde von der Universität Princeton nach Harvard berufen und erforscht zusammen mit seiner Frau Suzanne Walker Ansätze für ein neues Breitband-Antibiotikum an der Zellwand von Keimen. Dan Kahne ist außerdem Direktor für Bachelor-Studien des Instituts für Chemie in Harvard, wo die "Wiener Zeitung" ihn zum Interview besuchte.