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Neugier, Humor und Improvisation

Von Uschi Sorz

Reflexionen
"Ich bin unkompliziert" und "Ich ziehe keine Bilanz": Zwei Wesenszüge der 1927 in Wien geborenen Fotografin Lisl Steiner, hier im Hotel Sacher in Wien. 
© Stanislav Jenis

Ihrer Geburtsstadt Wien blieb die 1938 nach Übersee emigrierte Lisl Steiner immer verbunden. Kürzlich feierte die Fotografin und Zeichnerin hier ihren 90. Geburtstag.


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Das Foto "Klavier mit Silhouette von Gulda im Teatro Colón" wurde 1949 von Lisl Steiner in Argentinien gemacht.
© ÖNB

Eine formidable Lockenmähne. Und jede Menge Armbänder. In Grün, Rot, Goldbraun, Orange funkeln sie. Dazu etliche große bis sehr große Ringe an den Fingern. Lisl Steiner ist das, was man in Wien eine Erscheinung nennt. Sie fällt auf.

Dabei wirkt sie ausnehmend freundlich und entspannt. Klarer Blick. Keine Allüren. Exzentrik scheint einfach ein natürlicher Teil ihres Wesens zu sein. In den samtigen Polstern der Blauen Bar im Sacher hat es sich die Foto-Legende bequem gemacht. Ein Stock lehnt am runden Marmortisch. Es ist der 19. November, ihr 90. Geburtstag.

Frühe Flucht aus Wien

Dass sie den hier feiern würde, hätte sich wohl keiner gedacht, als sie vor mehr als 80 Jahren an der Hand ihres Vaters zum ersten Mal ins Sacher kam. "Ich muss ungefähr drei gewesen sein", erinnert sie sich. Immer sonntags nahm die Familie das zweite Frühstück hier ein. Viele unbeschwerte Kinderjahre lang. Oft machte sich die kleine Lisl einen Spaß daraus, ihr umgedrehtes leeres Frühstücksei mit einer gespielten Beschwerde zurückzuschicken. Sie trieb Scherze mit den Kellnern. Bis es sie im Jahr 1938, mit elf, ganz plötzlich auf einen anderen Kontinent verschlug.

Übertriebene Fluchtgeschichten will sie dennoch keine über sich verbreitet wissen. "Wir waren schon vorher weg", sagt sie trocken. Gemeint ist: bevor Hitler hier sein Unwesen trieb. "Uns ist nichts passiert." Ihr Vater habe früh gespürt, dass es für seine jüdische Frau hier brenzlig werden würde. Seine zwei Brüder, einer Professor in Buenos Aires, einer Journalist in Chile, bildeten den Ankerpunkt. Die Wahrheit über die katastrophalen politischen Entwicklungen hielt die Familie von Lisl fern.

Lisl Steiner wurde 1927 in Wien geboren. Der Vater hatte italienisch-ungarische, die Mutter tschechische Wurzeln. Ihre Kindheit war glücklich, sagt sie, und ihre Jugend in Buenos Aires ebenso. Ihre Eltern liebten sie, ließen ihr zudem viel Freiheit. "Ich war früh selbstständig." In der argentinischen Hauptstadt studierte sie Kunst an der Fernando-Fader-Hochschule. Schnupperte dann ein bisschen an der Universität, aber nicht lange. "Ich wollte lieber Autodidaktin sein."

Sie arbeitete in der argentinischen Filmindustrie, assistierte bei über 50 Dokumentarfilmen. Bekam eine Kamera geschenkt und begann sich für Fotojournalismus zu interessieren. Ab 1955 hat sie eine fulminante Karriere als Porträt- und Reportagefotografin und Zeichnerin hingelegt. Sie fotografierte für "Newsweek", "Time Magazine", "Life" und andere illustre Blätter.

Das habe sich eben so ergeben, meint sie dazu. Und schreibt in dem vor zwei Jahren erschienenen Band "Lisl Baby - ich bin die Sheherazade der Fotografie", in dem sie einen Querschnitt ihres Lebenswerks zusammengefasst hat: "Gerne würde ich sagen, dass am Beginn meiner Karriere als Fotografin ein dramatisches Zeichen stand." Doch keine Vision, kein "Heureka, das ist es!" habe ihr den Weg gewiesen. "Ich bin sicherlich eine Realistin, aber ich bin auch davon überzeugt, dass das Leben erst durch Überraschungen und Zufälle so wirklich schön wird; die langsame Entfaltung von etwas, das natürlich nicht vorauszusehen war und von dem man am Ende des Lebens sagt: ,Also das ist es, worum es geht‘."

Ikonen der Fotohistorie

Als Fotografin habe sie die hinter einer Situation verborgene Wahrheit entdecken können. Dafür ist sie empfänglich und es fasziniert sie bis heute. Ein großer Teil von Lisl Steiners Œuvre ist eine Mischung aus Zeitgeschichte und dem Who’s Who der Sechziger- und Siebzigerjahre. Norman Mailer mit Mutter. Franz Beckenbauer in der Badewanne im Gespräch mit Henry Kissinger. Jacky Kennedy beim Begräbnis von Martin Luther King. Geschockte New Yorker am Times Square nach Kennedys Ermordung. Aber auch die
Toilettenfrau in New Orleans und der Mann, der in Rio die Seilbahn auf den Corcovado steuert. Viele ihrer Bilder gehören zu den Ikonen der Fotogeschichte.

Schwer zu sagen, welche berühmte Persönlichkeit sie nicht vor der Linse hatte. Fidel Castro, Indira Gandhi, Leonard Bernstein, Duke Ellington, Miles Davis, Louis Armstrong und Weltklasse-Ballesterer Pelé sind jedenfalls dabei. Startschuss des Erfolgs: der argentinische Präsident Eugenio Aramburu 1955 beim Fischen.

Gerade erst waren etliche ihrer Fotos im Österreichischen Kunstforum in Bratislava zu sehen. 1999 schenkte sie ihre Zeichnungen und 2004 ihren fotografischen Vorlass der Österreichischen Nationalbibliothek. Dort sind sie elektronisch abrufbar.

Milliarden Sekunden

Zurück zur Blauen Bar in Wien. An dem eingangs geschilderten Novembertag vor wenigen Wochen tauchen laufend kleine Grüppchen auf, um zum 90er zu gratulieren. Freunde, Bekanntschaften, Bewunderer, Weggefährten. Sie trinken ein Glas Sekt, plaudern länger oder kürzer, gehen wieder. Genau so habe sie es gewollt, sagt Lisl, die am liebsten mit allen per Du ist.

"Ich hasse Cocktail-Partys. Alle stehen nur herum und niemand sagt etwas Wichtiges." Besser sei es, an einem Ort zu sein, an dem sie sich wohlfühle. Also in der Blauen Bar, wo sie immer, wenn sie in Wien ist, ihr "Zelt aufschlägt". Den ganzen Tag wird sie hier an ihrem Stammplatz Hof halten und sich Zeit nehmen für Begegnungen und Gespräche. Mitunter beginnen diese mit der Anweisung "Augen zu!" Um den einen oder anderen mit einer auf die Nase geklemmten Mona-Lisa-Karte im Gesicht zu überraschen. Oder mit einer überdimensionalen blinkenden Brille mit "Juhu"-Schriftzug. Scherze macht sie immer noch gerne, ob in der Blauen Bar oder anderswo, die inzwischen 90-jährige Lisl.

Lisl Steiner in der Blauen Bar des Hotel Sacher.
© Stanislav Jenis

Die Fotohistorikerin Anna Auer setzt sich dazu und erzählt, wie Lils Steiner ihr mit Rat und Tat zur Seite stand, als sie in den Neunzigern am Paul Getty Research Center in Los Angeles zur österreichischen Exilfotografie recherchierte. Überall habe sie sie herumkutschiert.

Ein aus den USA angereister Besucher bringt Steiner eine ihrer geliebten folkloristischen Holzschlangen mit und liest der gerade anwesenden Runde seine poetisch angehauchte Glückwunschkarte vor. Er hat Lisls Lebensjahre in Monate, Wochen, Tage, Stunden und Sekunden umgerechnet und wünscht ihr noch unzählige wundervolle Sekunden. Ausgehend von den 2.838.240.000 vergangenen. Wer sich verheddert: Es geht in die Milliarden . . .

Ein junger Fotograf, den sie tags zuvor auf einer Vernissage der Wiener Fotogalerie WestLicht getroffen hat, überreicht ihr eines seiner Bilder mit Widmung. So geht es weiter bis zum Abend, den die Jubilarin im Musikverein ausklingen lässt. Ein Ehrentag im besten Sinn: intim, leise, respektvoll, unspektakulär, abwechslungsreich, lustig. In einem ein wenig aus der Zeit gefallenen Stückchen Wien. Jenem, dem sich Lisl Steiner eng verbunden fühlt.

Ihre Eltern kehrten nach der Emigration nie mehr nach Österreich zurück. Lisl hingegen reist seit über 50 Jahren hierher. "Ich bin eine Wienerin", sagt sie und korrigiert sich sogleich: "Nein, eigentlich eine Weltbürgerin." Sie hat die amerikanische Staatsbürgerschaft, lebt seit 1960 in den USA. Nach zehn Jahren in New York heiratete sie ihren zweiten Mann, den Psychoanalytiker Michael Meyer Monchak, und zog mit ihm ins etwa achtzig Kilometer von Manhattan entfernte ländlich-idyllische Pound Ridge.

Mit ihm, der 1992 verstorben ist, pilgerte sie bei jedem gemeinsamem Wien-Aufenthalt zum Freud-Museum in die Berggasse 19. "Statt in die Kirche gingen wir zu Freud." Sie lacht herzlich.

Vielleicht hat ihr ja die Freundschaft zu Friedrich Gulda die Brücke zurück nach Wien gebaut, wer weiß? Zumindest sorgten die Besuche bei den Guldas für die ersten Heimataufenthalte nach der Emigration. Den berühmten Pianisten traf sie 1949 in Argentinien. Er gab sein erstes großes Konzert im Teatro Colón. Wobei Lisl Steiner im richtigen Moment auf die Kamera drückte. Ein Foto zeigt Gulda schattenhaft von hinten, wie er sich auf sein Klavier zubewegt. Nur ein Millimeter liegt zwischen seiner Gestalt und dem Schatten, den sein Instrument wirft. (siehe Abbildung).

"Das hat das Bild gemacht", kommentiert die Fotografin zufrieden. "In den Fünfzigern gehörte das Teatro Colón in Buenos Aires zu den berühmtesten Opernhäusern der Welt", erzählt sie. Musiker und Dirigenten von Rang kamen per Schiff hierher und traten auf: "Arturo Toscanini, Erich Kleiber, Karl Böhm, Otto Klemperer, Herbert von Karajan oder Wilhelm Furtwängler zum Beispiel."

Rauchfangkehrer-Muse

Sie ist dort vielen Hochkarätern begegnet - die sie natürlich alle fotografiert und gezeichnet hat. "Ich saß oft mit dem Skizzenbuch im Orchestergraben." Damals war sie in erster Ehe mit dem Sohn des Opernregisseurs Otto Erhardt verheiratet. Ihre Freundin, die Schauspielerin Paola Loew, wurde Guldas erste Frau und ging 1953 mit ihm nach Wien. "Ich habe sie einander vorgestellt."

Auch eines ihrer bis heute andauernden fotografischen Lebensprojekte nahm in Wien seinen Ausgang. 1965 war der Erste, dem sie bei einem Spaziergang in der Stadt begegnete, ein Rauchfangkehrer. Sein Foto eröffnet ihre Website www.lislsteiner.com. Seitdem lichtet sie die Rauchfangkehrer Wiens immer wieder ab. Und die wissen das offenbar zu schätzen. "Ich hab schon ganz viele ihrer weißen Kapperln bekommen." Sie sei geradezu deren Maskottchen geworden. Ihre Geburtstagsparty mit 99 Rauchfangkehrern vor 13 Jahren in der Galerie WestLicht war legendär. Und mitunter ist sie Ehrengast am Rauchfangkehrer-Ball. "Der ist unglaublich elegant", lobt sie die jährliche Veranstaltung ihrer liebsten Zunft.

Das andere Langzeit- und Leidenschaftsprojekt sind die Kinder. Mit der Bildchronik "Children of America" begann Lisl Steiner 1959. Zur Finanzierung holte sie damals bei einem Außenministertreffen in Chile eine Unterstützungserklärung ein. "21 Außenminister unterschrieben, das war ein echtes Zugeständnis." Sie hat arme und reiche Kinder fotografiert, in Süd-, Mittel- und Nordamerika, und immer damit weitergemacht. 1979 hat sie den großen Dichter Jorge Luis Borges um ein Gedicht für ihr Projekt gebeten. "Am ersten Tag hat er nein gesagt. Am zweiten Tag war das Nein irgendwie schon kleiner und am dritten Tag hat er die Tür geöffnet und gesagt, ich hab etwas für dich."

Was hat sie an sich, dass sie das Gewünschte häufig erreicht? Lisl Steiner findet es müßig, über so etwas zu spekulieren. Jedenfalls ist es ihr oft gelungen. Punkt. Dabei wirkt sie keineswegs fordernd, eher ausdauernd. Ein kleines Beispiel gibt der Interview- und Fototermin mit der "Wiener Zeitung" im Sacher, zehn Tage vor ihrem Geburtstag. Geduldig posiert und antwortet sie, obwohl sie Warum-Fragen nicht leiden kann, wie sich bald herausstellt. "Solche Fragen kann man oft nicht beantworten", tadelt sie milde. "Die Dinge ergeben sich einfach."

Sie bekommt Lust auf Krautfleckerln. Nur: Der Kellner bedauert. Die wurden vor einiger Zeit von der Karte genommen. Lisl Steiner ist enttäuscht, aber höflich. Was es sonst noch gibt? Okay, etwas anderes ist auch in Ordnung. Der Koch macht die Krautfleckerln dann aber doch. So gut, wie sie sie in Erinnerung hatte. Und ohne dass sie es verlangt hätte. Aber: "Ich wusste, dass es möglich sein wird", lächelt sie verschmitzt und freut sich über die Portion.

Drei Dinge seien wesentlich im Leben, sagt sie. Neugier, Humor und Improvisation. "Wenn ich fotografiere, denke ich nicht nach." Intuition brauche man natürlich schon. "Um den entscheidenden Moment einzufangen, darfst du nur der Voyeur sein und musst dich auf deine Instinkte verlassen." Zu technisch oder zu intellektuell zu sein, würde nur die Kreativität einengen. "Um im Moment zu sein, musst du dich und alles um dich herum vergessen, und auch alles, was du weißt", so ein weiteres Statement aus ihrem Buch. Dass der Fotograf der "Wiener Zeitung" ohne Blitz fotografiert, gefällt ihr. Das habe sie ebenfalls oft gemacht. Man bleibe dann schön unauffällig, käme leichter an die Menschen heran.

Heute sei das ohnehin viel schwerer als früher. "Ich finde, ein Blitz macht alles zu einem Tatort." Ein Gespräch mit dem jungen Kollegen entspinnt sich. "Ich fotografiere Wichtiges und Unwichtiges", sagt sie zu ihm. "Das Unwichtige ist auch wichtig." Irgendwann fotografieren sie sich gegenseitig.

Wenn man mit Lisl Steiner unterwegs ist, kann man beobachten: Sie interessiert sich für Menschen. Hört gern ihre Geschichten. Und macht oft Witze, wie etwa mit dem Taxifahrer, einem Sikh aus Indien. Ob er denn mit dem langen Bart unter oder über der Bettdecke schlafe, fragt sie ihn. "Darunter natürlich", pariert er locker. Auch wenn sie jetzt eine betagte Dame mit Stock ist, sie scheint sich leichtfüßig durchs Leben zu bewegen. Begeistert sich für vieles, etwa primitive Kulturen. "Ich möchte am liebsten mit den Händen essen", ruft sie. Oder: "Wie schön wäre es, mit allen, die man liebt, in einem großen Zelt zu leben, so wie im Film ,Wild Horses of Mongolia‘ von Julia Roberts."

Doku in Vorbereitung

Zwei ihrer liebsten Freundinnen, Ingrid Rockefeller und die Schauspielerin Vivian Winther, wohnen weit von ihr entfernt, das sei so schade. Die beiden drehen übrigens schon seit acht Jahren einen Film über sie. "Da wird man mich altern sehen", lacht Lisl. "Ich überlege mir aber lieber, was ich dann am Red Carpet anziehen werde." Nächstes Jahr soll die Doku fertig werden.

Was ihr wirklich wichtig ist: "Ich will nicht zu viel wissen." Schon der wunderbare Paul Klee habe gesagt, beim Zeichnen gehe es ums Weglassen. Und im Leben sei es eben genauso. "Wenn du die Möglichkeit hast, etwas zu vereinfachen, dann tu es." Sie sei unkompliziert, nehme die Dinge, wie sie kommen. "Oder ich lasse sie über mich ergehen."

Wer sich jetzt noch traut, sie zu ihrem 90er um ihre Lebensbilanz zu fragen, hat die Antwort verdient: "Ich ziehe keine Bilanz."

Uschi Sorz hat an der Kunstakademie in Amsterdam studiert, wo sie auch lange lebte. Sie ist nun freie Journalistin und Texterin in Wien.