Vier-Parteien-Regierung tritt ihr Amt an - bei den Frankophonen ist sie schon jetzt unbeliebt.
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Brüssel. Viereinhalb Monate nach den Parlamentswahlen bekommt Belgien eine neue Regierung. Am heutigen Samstag legen die 14 Minister unter Leitung des künftigen Premiers Charles Michel vor König Phillippe den Eid ab. Michel, Präsident des liberalen Movement Réformateur (MR), hatte mit dem Christdemokraten Kris Peeters über den Sommer die Koalitionsgespräche geleitet. Mit 38 Jahren wird der Sohn des ehemaligen EU-Kommissars Louis Michel nun jüngster belgischer Premier aller Zeiten.
Vertreten sind in der Mitte- Rechts-Koalition auch die flämischen Liberalen Open VLD, die flämischen Christdemokraten CD&V sowie die Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA). Die nationalistische Partei, die ein unabhängiges Flandern anstrebt, hatte im nördlichen Landesteil die Wahlen mit deutlichem Vorsprung gewonnen. In Belgien sind die Parteien nach Sprachgruppen getrennt. Föderale Parlamentswahlen bestehen aus den separaten Ergebnissen im frankophonen und niederländischsprachigen Landesteil.
Unpopuläre Einsparungen, höheres Rentenalter
Im Fokus des Koalitionsvertrags steht die Konsolidierung des belgischen Haushalts, der mit über 100 Prozent verschuldet ist. Mit Einsparungen von acht Milliarden Euro soll bis 2018 ein ausgeglichener Etat erreicht werden. Dazu wird unter anderem der Index, der die Löhne an die Lebenshaltungskosten anpasst, einmalig ausgesetzt, was knapp zweieinhalb Milliarden Euro in die Kassen bringen soll. Zudem wird das Rentenalter von bislang 65 Jahren in zwei Stufen auf 67 Jahre angehoben. Die Kriterien für Arbeitslosengeld und Arbeitsunfähigkeit werden verschärft, Langzeitarbeitslose sollen einen obligatorischen Gemeinschaftsdienst leisten.
Auffällig still ist der Koalitionsvertrag über das Thema, das in Belgien in den letzten sieben Jahren für mehrere schwere Krisen sorgte: das Verhältnis der Sprachgruppen und, darauf basierend, das Verhältnis zwischen föderalem Staat und den immer mächtigeren Regionalregierungen in Flandern, Wallonien und Brüssel. Dies ist umso bemerkenswerter, als mit der Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) erstmals eine Partei in der Regierung beteiligt ist, deren erklärtes Ziel die flämische Unabhängigkeit ist. Doch die N-VA hatte bereits im Wahlkampf deutlich auf ihr zweites Standbein gesetzt und sozio-ökonomische Sparmaßnahmen angekündigt.
Mit der Sozialistischen Partei PS und der humanistischen Partei cdH lehnten zwei der drei großen frankophonen Kräfte dennoch eine Koalition mit der N-VA ab. Schon bald nach den Wahlen im Mai war damit klar, dass die künftige Regierung die einzig mögliche Option auf föderaler Ebene sein würde.
Polyphone Kritik an "Kamikaze-Regierung"
Dass diese nun auf frankophoner Seite keine Mehrheit hat, versieht sie von Beginn an mit einem deutlichen Legitimitätsdefizit. Vor allem im dem vom Parti Socialiste dominierten Wallonien ist dieses Handicap durchaus auch ein inhaltliches, denn die politische Kultur ist hier wesentlich sozialstaatlicher orientiert als im konservativ-liberalen Flandern. Belgische Medien sprachen anhand dieser heiklen Konstellation schon von einer "Kamikaze-Regierung".
Dementsprechend gab es bereits vor der Vereidigung einen Vorgeschmack auf die fünfjährige Legislaturperiode: Der scheidende Ministerpräsident Elio Di Rupo (PS) sagte am Freitag, sein Nachfolger Charles Michel sei "nicht der Premier aller Belgier" und der N-VA-Vorsitzende Bart De Wever gebe sich wie der Chef der neuen Regierung.
Protest gab es aus Kreisen der Sozialisten auch gegen die Verteilung der Ministerposten: Mit den Portfolios Inneres, Finanzen und Verteidigung übergebe man den flämischen Nationalisten die Schlüssel zum föderalen Etat. Damit verlagere sich die Macht aus dem Regierungssitz in Brüssel "ins Rathaus von Antwerpen" - ein Hinweis auf N-VA-Chef De Wever, den Bürgermeister der flämischen Metropole.
Kurz nach der Vereidigung steht der neuen Regierung bereits ihre erste Kraftprobe bevor: In der kommenden Woche wird im Parlament der Koalitionsvertrag diskutiert. Ein heftiger Schlagabtausch ist zu erwarten.