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Neustart-Kommando

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

Militärs, Aktivisten, Journalisten - eine ganz neue Schicht wird nach den Parlamentswahlen am 26. Oktober in das ukrainische Parlament einziehen. Was können sie verändern?


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Kiew. Wenn Alexej einmal seine Ruhe haben will, hat er einen Trick. "Wenn ich meine Brille aufsetze, erkennt mich jeder", sagt er augenzwinkernd. "Aber wenn ich sie abnehme, nicht mehr." Vor wenigen Wochen führte Alexej in Kiew noch ein ruhiges Leben abseits der Öffentlichkeit. Jetzt ist sein Foto quer über die Ukraine plakatiert, mit Julia Timoschenko in der Mitte, umringt von jungen Menschen. Rechts neben der Frau mit der markanten Zopffrisur steht Alexej, die Hände locker in den Hosentaschen, mit dunklem Kurzhaarschnitt und der schwarzen Hornbrille auf der Nase.

"Ich wusste, dass ich irgendwann in die Politik will - vielleicht mit 40 oder 45 Jahren", erzählt der 31-Jährige. "Aber jetzt hat sich die Möglichkeit aufgetan - das musste ich nutzen." Die Partei "Batkiwschina" ("Vaterland") hat zuletzt einen Wettbewerb ausgeschrieben, um junge Menschen für die Parteiarbeit anzuwerben. Alexej Rjabtschin, ein Ökonom aus Donezk, wurde dabei ausgewählt. Jetzt kandidiert er für die Timoschenko-Partei - auf Listenplatz neun. "Als ich das erfahren habe, war ich etwas schockiert - so eine große Verantwortung!" Eine Stimme der Wissenschaft, der innovativen Wirtschaft und des Donbass - das will er im ukrainischen Parlament, der Werchowna Rada, sein. Vieles ist noch ungewohnt: die Interviews, die Wahlkampftouren - aber auf Facebook kokettiert er schon mit seiner neuen Rolle: Dort hat er ein Foto gepostet, wie er mit Julia Timoschenko Tischtennis spielt.

Alexej Rjabtschin ist einer der Newcomer in der Timoschenko-Partei "Batkiwschina". Wie alle auf den Wahlplakaten um Timoschenko herum trägt auch er eine weiße Weste. Es ist so etwas wie das inoffizielle Motto dieser Parlamentswahlen am 26. Oktober, knapp ein Jahr, nachdem sich auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan, die ersten Studenten zum Protest versammelt haben - was später zum Umsturz in der Ukraine führte. Neustart. Frischer Wind. Schluss mit dem alten System: Alle Parteien wollen sich diesen Anstrich geben. Neue Namen finden sich auf allen Listen der Parteien, auf den vorderen Plätzen, mit guten Chancen, in die Werchowna Rada einzuziehen - von "Batkiwschina" bis zum Block Poroschenko.

Auch Natalja Sokolenko ist eine von ihnen: Die zierliche 39-Jährige kandidiert auf dem 13. Listenplatz für die Partei "Hromadjanska Posizija" ("Bürgerposition") des ehemaligen Verteidigungsministers Anatolij Grizenko. Sokolenko ist Journalistin und Aktivistin. Sie war nicht nur seit der ersten Stunde am Maidan, sondern auch schon bei der Orangen Revolution im Jahr 2004 dabei. "Wir dürfen nicht noch einmal den Fehler machen, den wir damals gemacht haben", sagt Natalja. "Wir haben einfach den neuen Politikern vertraut, dass sie es schon richten werden." Sie trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift "Kämpft - und ihr werdet siegen", ein Zitat des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko, darunter eine Fotomontage des Dichters mit Sturmhaube.

Über die Parteigrenzen hinweg

Bei den Reformen gab es bisher großen Gegenwind, erzählt sie. Schon im Jänner, noch bevor der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch aus dem Land floh und am Maidan Menschen erschossen wurden, hat sie mit Kollegen ein Reformprogramm ausgearbeitet. 40 Gesetzesvorschläge - ein "Reanimationspaket, denn die Ukraine ist, was Reformen angeht, im Koma", sagt Sokolenko. Aber selbst nach dem Umsturz am Maidan war es schwierig, Parlamentarier von den Reformen zu überzeugen - zu viele seien noch auf der Gehaltsliste der Oligarchen. "Wir haben verstanden, dass wir diesmal die Reformen selbst bis zum Ende führen müssen", sagt sie kämpferisch.

Und das über die Fraktionen hinweg. Sokolenko, Rjabtschin und elf weitere Aktivisten und Journalisten haben angekündigt, nach dem Einzug in die Rada eine überfraktionelle Gruppe zu bilden. "Wir wollen einen anderen Politikstil in das Parlament bringen, neue Standards setzen und zeigen, dass wir miteinander verhandeln können", sagt Rjabtschin. Berührungen zwischen den einzelnen Fraktionen hatte es dort bisher meist nur in Form von Prügeleien gegeben.

Experten sind voll des Lobes für die Idee der jungen Aktivisten, sich über die bestehenden Parteien hinweg zu vernetzen. "Es wird somit eine Gruppe im Parlament geben, die für Reformen einsteht und Themen auf die Agenda setzt, die dort sonst nicht hingekommen wären", sagt Iryna Solonenko, Politologin an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. "Sie werden den Geist des Maidan in das Parlament tragen und die Arbeit dort transparenter und demokratischer machen", sagt auch der Kiewer Politologe Wladimir Fesenko.

Neben den Aktivisten, Wissenschaftern und Journalisten wird aber auch eine andere Gruppe in der neu gewählten Werchowna Rada einziehen: die der Militärs. Vor allem die neu gegründete Partei des Premiers Arseni Jazeniuk, die "Volksfront", hat viele Kommandanten und Sicherheitsleute auf ihrer Liste. Einer davon ist Andrej Teteruk, Kommandant des Bataillons "Friedensstifter". Der Zwei-Meter-Hüne kommt in Camouflage zum Interview, seine Bewegungen wirken noch etwas ungelenk. Warum gerade Jazeniuk? "Mir imponiert seine Führung", sagt Teteruk. "Er hat vom ersten Tag an Verantwortung übernommen." Ehre, Treue, Loyalität - Teteruk klingt weniger wie ein Politiker, sondern wie ein treu ergebener Soldat. Dass er jetzt auf Listenplatz fünf bald in die Werchowna Rada einziehen dürfte, war für ihn vor wenigen Monaten undenkbar. "Aber es ist meine Verpflichtung, mein Staat hat mich gerufen." Der Premier höchstpersönlich hätte ihm das Angebot gemacht, wie er sagt. Die Zeit an der Front in der Ostukraine habe ihn eines gelehrt: "Mit den Waffen allein erreichst du keinen Frieden."

Das sieht Semjon Sementschenko anders. Bis vor wenigen Wochen trug er eine Sturmhaube, um nicht erkannt zu werden - heute kandidiert er mit 15 weiteren Mitgliedern des Bataillons "Donbass" für die Partei "Samopomitsch" des Lwiwer Bürgermeisters Andriy Sadovyi. Sementschenko ist nicht sein richtiger Name, im Frühling hat er das Freiwilligenbataillon "Donbass" gegründet. Von Solidarität zu Premier oder Präsident hält er wenig - im Gegenteil: Die unfähige Verwaltung und die schlechte Versorgung hätten maßgeblich zu vielen Niederlagen in der Ostukraine beigetragen - so zuletzt bei der Tragödie von Ilowaisk, in der Sementschenko viele seiner Kämpfer verloren hat. Auch Sementschenko wurde verletzt. Er humpelt, auf einen Holzstock gestützt. Wo er anpacken will, sollte er in die Rada kommen? Semetschenko, mit einer Narbe vom Mund abwärts, gibt sich siegessicher: "Sie meinen, sobald ich in der Rada bin..." Laut Umfragen könnte die Partei die für den Einzug nötige Fünf-Prozent-Hürde stemmen. "Ich bin für Frieden, aber nicht um jeden Preis", erklärt Semetschenko. Ihm schweben starke regionale Verteidigungsmilizen vor, jederzeit kampfbereit - eine Art "Minutemen" wie in den USA - und ein allgemeines Waffenrecht. "Damit es sich für den Aggressor nicht mehr lohnt, bei uns einzumarschieren", sagt er.

Was bedeutet eine starke Militarisierung für die ukrainische Politik? "Ich halte das eher für eine PR-Strategie - viele in der Bevölkerung wollen aber radikalere Schritte gegen die Separatisten sehen als das derzeit geschieht", sagt die Politologin Iryna Solonenko. "Ihr Einfluss wird viel geringer sein als der Einfluss der Aktivisten", meint hingegen Politologe Wladimir Fesenko. Viele von ihnen werden sich auch gar nicht sehr aktiv in die Parlamentsarbeit einbringen, schätzt er.

Nur 30 Prozent Neubewerber

Bleibt am Ende also alles, wie es war? Von den 450 derzeitigen Abgeordneten bewerben sich 312 erneut um einen Parlamentssitz, wie die NGO "Opora" errechnet hat - allen Neustart-Parolen zum Trotz. Iryna Solonenko dämpft daher die Erwartungen: "Ich fürchte, die Aktivisten werden noch keine kritische Masse erreichen." Aber es sei zumindest ein Anfang. "Es wird keine schnellen und radikalen Änderungen geben", sagt auch Fesenko. "Aber eine Gruppe charismatischer Führer kann den Reformprozess sehr wohl beschleunigen."

Parlamentswahl

Bei der Parlamentswahl am Sonntag in einer Woche haben die Ukrainer erstmals seit dem Sturz von Wiktor Janukowitsch im Februar 2014 die Gelegenheit, eine neue Volksvertretung zu wählen. Der Urnengang gilt als Testlauf für die Politik der Regierung unter Staatspräsident Petro Poroschenko, die auf eine völlige politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit von Moskau abzielt. Poroschenko hatte das bisherige Parlament Ende August per Dekret aufgelöst und Neuwahlen angesetzt, nachdem die Koalitionsregierung im Juli zerbrochen war. Regulär hätte die Legislaturperiode erst 2017 geendet. Die 450 Abgeordneten sollen künftig mehr Einfluss bekommen und den Ministerpräsidenten ohne vorherige Konsultation mit dem Staatschef nominieren dürfen.

Fast 700 Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa werden den ordnungsgemäßen Ablauf der Wahl überwachen.