Vergangenes Wochenende legte die ÖVP bei ihrem Bundeskongress in Alpbach mehrere Vorschläge zum Österreich-Konvent, der bis Ende des Jahres eine neue Verfassung ausarbeiten soll, vor. Darunter jenen, die Neutralität so wie sie derzeit festgeschrieben ist zu übernehmen. Nationalratspräsident Andreas Khol präzisierte, dass damit auch der zuvor von der ÖVP immer wieder ins Spiel gebrachte NATO-Beitritt endgültig vom Tisch ist.
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Der Wunsch der ÖVP der NATO beizutreten und die Neutralität als nicht mehr zeitgemäß abzuschaffen, sei "Schnee von heute früh", sagte der Nationalratspräsident vor wenigen Tagen. Die Oktobersonne von Alpbach hat diesen Schnee innerhalb weniger Stunden zum Schmelzen gebracht. Die Volkspartei ist nun dafür, das Neutralitätsgesetz auch in einer neuen Bundesverfassung zu erhalten. Das politische Gezerre um die Neutralität findet seine Fortsetzung.
Eine verteidigungspolitische Kehrtwendung der Kanzlerpartei? Ich glaube nicht; die "Schneeschmelze" verfolgt ein anderes Ziel.
Um dies zu erkennen, muss man sich vor Augen halten, wie der gegenwärtige Rechtszustand ist. Hier gibt es zunächst das Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität Österreichs vom 26. Oktober 1955. In diesem erklärt Österreich seine immerwährende Neutralität, die es "mit allen ihm zu Gebote stehen-den Mitteln aufrechterhalten und verteidigen wird". Weiters wird bestimmt, dass Österreich "zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiet nicht zulassen" wird. Nach weithin unbestrittener Auffassung verlangt die immerwährende Neutralität neben der militärischen Neutralität auch eine Neutralitätspolitik: Ein Staat, der immerwährend neutral ist, muss ei-ne Gesamtpolitik pflegen, die es ihm im Krisenfall ermöglicht, neutral zu bleiben; dazu gehört auch eine wirtschaftliche Unabhängigkeit.
Der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union hat die immerwährende Neutralität Österreichs massiv eingeschränkt; von der Möglichkeit, eine eigenständige Neutralitätspolitik beizubehalten, kann in der Europäischen Union nicht die Rede sein. Dass man dies beim Beitritt verschwiegen beziehungsweise geleugnet hat, ist wahr, ändert aber nichts daran. Diese "Neutralitätslüge" hat auch nicht verhindert, dass die Neutralität seither von manchen völlig realitätsfern mythisch ver-klärt und geradezu zum Symbol der österreichischen Sicherheitspolitik gemacht wurde. Man muss daher klar sagen: Von der ursprünglichen "immerwährenden Neutralität" ist nur mehr ein Teil, nämlich die militärische, übrig geblieben. Das Bundesverfassungsgesetz über die immerwährende Neutralität wurde durch spätere Verfassungsänderungen erheblich durchlöchert; sein unverändert gebliebener Text verspricht mehr als er hält.
Im Österreich-Konvent wurde versucht, einen Text zu finden, der das zum Ausdruck bringt, was ohnehin geltendes Recht ist. Die Bemühungen sind gescheitert; wohlgemerkt: Es ging dabei nicht darum, irgendeine rechtliche Veränderung herbeizuführen sondern nur darum, einen Verfassungstext zu formulie-ren, der das und nur das ausdrückt was ohnehin geltendes Recht ist. Mehrere Textvorschläge dazu blieben ohne Konsens. Damit zeichnet sich ab, dass es beim Neutralitätsgesetz weder zu einer bloßen Neuformulierung und schon gar nicht zu einer inhaltlichen Änderung kommen wird. Die dafür erforderliche Zustimmung der Sozialdemokraten ist nicht in Sicht.
Betrachtet man den "geschmolzenen Schnee" vor diesem Hintergrund so entsteht der Eindruck, dass sich die Volkspartei damit abfindet, dass sich bei der Neutralität nichts ändern lässt und beseitigt mit ihrer nunmehrigen Haltung einen Stolperstein, der den Weg zu einer Einigung auf eine neue Verfassung zweifellos blockiert hätte. Die Volkspartei setzt damit eine versöhnliche Geste in Richtung Sozialdemokratie und Grüne.
Taktisch möglicherweise klug, der Preis ist freilich auf der Ebene der politischen Ehrlichkeit zu bezahlen. Die schon unsäglich gewordene Neutralitätsdebatte wird sich noch jahrelang fortschleppen. Österreich wird sich in dieser Frage vermutlich weiter so verhalten, wie seit Beginn der Beitrittsverhandlungen: In Österreich wortreich die Bedeutung der Neutralität betonen und in Brüssel gegenteilig handeln.
Univ.Prof. Heinz Mayer ist Verfassungsrechtler an der Uni Wien