Angesichts der bevorstehenden Nato-Beitritte Finnlands und Schwedens könnte Österreich seine Rolle als neutraler Staat neu auslegen.
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Das Ukraine-Szenario hat uns die "Welt von gestern" zurückgebracht, das genaue Beobachten einer nahenden Katastrophe, wie Stefan Zweig den Vorlauf von zwei Weltkriegen beschrieb. Das Entscheidende für ihn war, mitten im drängenden Weltgeschehen Zeit zu finden für den "Dienst an der künftigen Verständigung"; an den Frieden von morgen zu denken - ein eminent neutralitätspolitisches Unterfangen.
Im größten Konflikt auf europäischem Boden seit 1945 steht eine Friedensordnung noch in weiter Ferne. Die Auseinandersetzung ist vielschichtig, und selbst ein Sturz des Regimes von Wladimir Putin scheint eine eingefrorene Hochrisikolage auf lange Sicht nicht abwenden zu können. Während die Ukraine ihre staatliche Unabhängigkeit verteidigt, richtet sich die russische Aggression auch gegen die Wertedominanz Europas und hat, wie am jüngsten G7-Gipfel vom 15. Mai aufgezeigt, massive wirtschafts- und entwicklungspolitische Folgen auf globaler Ebene.
Gleichzeitig liegen Elemente einer "zukünftigen Verständigung" wie Neutralität mit "Snapback"-Mechanismus, Wiederaufbau durch Oligarchen-Gelder, Aufarbeitung von Kriegsverbrechen, Minderheitenschutz und Sprachenfragen auf dem Tisch. Sobald aus Sicht der Kriegsparteien am Verhandlungstisch mehr herauszuholen ist, ist der Zeitpunkt für eine friedliche Konfliktlösung reif. Die Frage ist, wann dem Gordischen Knoten einer durch latente Nuklearbedrohung ausgehebelten Sicherheitsordnung mit diplomatischen Mitteln beizukommen ist.
Einiges deutet darauf hin, dass eine Lösung globale Dimensionen haben wird: atomare Asymmetrien, Bündnisverschiebungen, hybride Kriegsführung, Informations- und Weltwirtschaftskrieg, und vor allem das Entstehen eines komplexen Bipolarismus. Wird es zu einem "Einfrieren" der ideologischen Spaltung von Ost und West kommen? Werden aufgrund der Erosion der alten Ordnung Allianzen anstatt Institutionen das Weltgeschehen lenken?
Der Weg für ein Neudenken globaler Friedensstrukturen, der dem aufgeschaukelten Autokratie-Demokratie-Gegensatz entgegenwirkt, erfindet auch die Rolle von Neutralen neu. Drei involvierte Interessenkreise sind zu bedienen: die internationale Gemeinschaft, das Verhältnis zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine sowie vor allem eine Friedensordnung, die den Gesellschaften Europas gerecht wird.
Objektiv betrachtet war der russische Wunsch nach "Pufferstaaten" gegenüber der Nato ein nachvollziehbares vitales Sicherheitsinteresse, das sicher unterschätzt wurde. Hinter dieser Politik des "Schutzes russischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in der Nachbarschaft" versteckt sich allerdings ein mächtiger Auffassungsgraben zwischen Ost und West in Bezug auf ein und dasselbe völkerrechtliche Prinzip. Auf den Punkt gebracht: Selbstbestimmung und Autonomie - ja, aber wie.
Neutralität aktiv bespielen
Die Neuerfindung der Neutralität und damit eines Stückes Gedankenfreiheit in unserer internationalen Ordnung ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger, bisher zu wenig beleuchteter Aspekt. Die Ablehnung eines Nato-Beitritts hat sich in der Ukraine seit Ausbruch des Krieges geradezu verkehrt: Schutz wird nun in Bündnispolitik gesehen. Die lange dauernde "Non-Alignment"-Politik Finnlands und Schwedens verpufft angesichts der russischen Bedrohung. Die verbleibenden neutralen Staaten, darunter Irland und Österreich, erscheinen als Relikte einer nicht mehr zutreffenden Lageeinschätzung. Worin liegt das ungehobene Potenzial der Neutralität aus Sicht der Protagonisten?
Zur Argumentation pro Neutralität gehört, dass der neutrale Status positive Anreize setzen kann: Laut Bundesregierung ist Österreich "neutral zu militärischen Bündnissen, aber nicht neutral zu Werten". Dieses Modell könnte sich mit Blick auf einen raschen EU-Beitritt der Ukraine als wichtiger Punkt herausstellen. Auf dem Boden der Friedensforschung der vergangenen Dekaden müsste daneben auch ein weiterer Kernpunkt stärker diskutiert werden, nämlich ob und wer der Ukraine im Falle einer Neutralitätserklärung als Garant zur Seite stehen kann und mit welchen Versprechen. Dass eine Garantiestellung auch regionale Institutionen wie die EU oder StaatspräsidentInnen miteinbeziehen könnte, wäre eine Denkvariante im Sinne der vernetzten Souveränität.
Man kann mit dieser Denkweise die Neutralität aktiv bespielen und Provokationen, Fehlreaktionen, aber vor allem der Verhärtung von Positionen entgegenwirken. Jedenfalls scheint es wesentlich, die Neutralitätsdiskussion nicht einzudämmen, sondern breiter auch andere Gesichtspunkte wie Friedensvermittlung oder zivil-militärische Auslandseinsätze miteinzubeziehen und - nach der geänderten Bündnispolitik der beiden nordischen Staaten - die neu entstandene Lücke im friedenspolitischen Engagement zu füllen. Das gäbe auch Österreich innovative Möglichkeiten in der Außenpolitik.
Verhältnis von EU und Nato
Schließlich wird durch die bevorstehende Nato-Erweiterung die komplementäre Rolle der EU zur Nato neu definiert. Gemäß "Strategischem Kompass" könnte eine Arbeitsteilung so aussehen: Die Nato steht für robuste Einsätze und Verteidigung; die EU verhandelt, vermittelt und sichert die Nachbarschaft. Dafür braucht sie militärische Stärke. Dazu wird auch Österreich beitragen müssen, egal ob neutral oder nicht. Der Querdenker-Mehrwert von garantierter Bündnisfreiheit könnte in dieser Konstellation das angestrebte Modell der strategischen Autonomie absichern.
Die künftige Sicherheitsarchitektur europäischer Prägung muss wohl mit einem harten "Limes" rechnen und in kleinen Schritten Wiedergutmachung im Sinne einer nachhaltigen Ordnung auf Grundlage nicht verhandelbarer Identitäten betreiben. Für jede Option ist es aber wichtig, den Dialog zu suchen. Der Erhalt von Diversität durch eine neue Welt-Netz-Ordnung wird unsere Kreativität herausfordern. Emil Brix, Direktor der Diplomatischen Akademie Wien, hat schon recht, wenn er sagt: Die Diplomatie hört nie auf.