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Neville Alexander

Von Klaus Huhold

Reflexionen

Der südafrikanische Sprachwissenschafter und Anti-Apartheid-Aktivist Neville Alexander über den bewaffneten Kampf, seine Zeit in Gefangenschaft, die Bekanntschaft mit Nelson Mandela - und über seine Liebe zur deutschen Literatur.


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"Wiener Zeitung": Sie haben über schlesische Barockliteratur diplomiert und über Gerhart Hauptmann eine Dissertation verfasst. Gleichzeitig waren Sie Befreiungskämpfer gegen die Apartheid. Waren die politische und die wissenschaftliche Welt zwei getrennte Sphären oder gab es Schnittstellen?

Neville Alexander
© © Gudrun Krieger

Neville Alexander: Teilweise war es getrennt, wir konnten aber auch eine Verbindung zu unserem eigenen Leben finden. Der Hauptgrund, dass ich meinen Magister über das schlesische Barockdrama machte, war ein damals junger österreichischer Dozent an der Univeriät Kapstadt, Herr Professor Karl Tober, der mich und andere für das Barock begeistert hat. Mich haben besonders Andreas Gryphius und die Widersprüchlichkeit in der Barockliteratur angezogen. Es entstanden ja damals so viele Thesen und Antithesen wegen des 30-jährigen Krieges und der Religionskonflikte in Europa. Das war eine Brücke zum Anti-Apartheidskampf, diese Auseinandersetzungen, in denen die Religion als politische Ideologie eine Rolle gespielt hat. In der Literatur haben sich krasse Gegensätze manifestiert, die wir in unserem eigenen Leben tagtäglich erlebt haben. Aber natürlich war die wissenschaftliche Beschäftigung mit der deutschen Literatur für einen schwarzen Südafrikaner damals eine ganz große Ausnahme.

Und wie kam es bei Ihnen dazu?

Das kam daher, dass ich eine römisch-katholische Missionsschule besucht hatte. Und wenn man damals an die Uni wollte, musste man für die Matura eine dritte Sprache oder Mathematik wählen. Wir hatten jedoch keine Mathematik. Aber die Nonnen, die unsere Lehrerinnen waren, waren fast alle deutschsprachig. Deshalb habe ich Deutsch als Fach genommen. Und ich habe mich sofort in die deutsche Literatur verliebt - vor allem in Goethe, Schiller und Hölderlin.

Um 1960 entschieden sie sich als politischer Akteur für den bewaffneten Widerstand gegen das Apartheid-Regime. Was war der Grund dafür?

Das Massaker von Sharpeville 1960 (in dem Township Sharpeville erschoss die Polizei bei einer friedlichen Demonstration 69 Schwarze, Anm.). Ich war damals Student in Tübingen und fühlte mich ohnmächtig. Es wurde mir aber klar, dass alle Versuche, auf friedlichem Weg eine Lösung für die sogenannte Rassenproblematik in Südafrika zu finden, nicht erfolgreich sein können. Zudem war ich sehr von den Revolutionen in Algerien und Kuba beeinflusst. Guerillakrieg war auch ein bisschen Mode zu der Zeit. Der Großteil der Leute, die im ANC, PAC oder Unity Movement (Anti-Apartheidsbewegungen, Anm.), zu dem ich gehörte, Führungsrollen innehatten, kamen zu der Einsicht, dass wir zu den Waffen greifen müssen. Aber gleichzeitig waren die meisten nicht willens, es tatsächlich zu tun, weil es ihnen zu riskant war.

Das heißt aber, dass dieses Massaker ganz allgemein zu einem Umdenken innerhalb der Befreiungsbewegungen geführt hat.

Vor 1960 hat die Befreiungsbewegung in Südafrika nur auf friedliche Methoden gesetzt: Delegationen, Konferenzen, Demonstrationen oder Streikbewegungen. Aber niemals hat man daran geglaubt, dass man tatsächlich den Staat stürzen könnte. Erst 1960 wurde klar, dass das notwendig war. Für mich und meine Genossen und Genossinnen wurde offensichtlich, dass die Rassenideologie, die auf der Idee eines Herrenvolkes aufbaute, eine Art Isolierungsins-trument war. Wenn man also von der Theorie der Revolution ausgeht, wurde ja schon von Karl Marx gesagt, dass die endgültige Entscheidung in der Armee gefällt wird, also von der Straße auf die Streitkräfte übergeht. Für uns war klar, dass die südafrikanische Armee, die von Weißen besetzt war, immer die Entscheidung gegen das Volk treffen und nie den Befehl verweigern würde. Und deshalb haben wir gemeint, eine Guerillaarmee aufbauen zu müssen. Das war natürlich sehr idealistisch, wir waren sehr junge Leute. Im Rückblick muss ich sagen, dass es sehr unrealistisch war. Wir sind auch schon nach zwei Jahren in der Vorbereitungsphase aufgeflogen. Gott sei Dank. Sonst wäre ich wahrscheinlich heute nicht mehr da und könnte Ihnen diese Geschichte nicht erzählen.

"Die Interessen der schwarzen Mittelklasse machen eine rückschrittliche Entwicklung in Südafrika unmöglich": Neville Alexander im Gespräch mit "Wiener Zeitung"-Redakteur Klaus Huhold.
© © Gudrun Krieger

Sie waren dann zehn Jahre in dem berüchtigten Gefängnis von Robben Island inhaftiert. Es heißt, dass die Häftlinge dort nicht gebrochen werden konnten, weil ihr Zusammenhalt so stark war. Wahrheit oder Mythos?

Das ist absolut die Wahrheit. Es gab die Führung von Nelson Mandela und auch Anderen, wie Walter Sisulu, und das war sehr wichtig. Ich glaube, die Regierung hat darauf gesetzt, dass wir uns zerstreiten würden, weil wir aus verschiedenen politischen Richtungen kamen. Es gab ja großen Zwist zwischen PAC und ANC, und zum Teil auch mit unserem kleinen Grüppchen. Aber die reife Herangehensweise von Mandela und Sisulu hat dazu geführt, dass wir uns darauf verständigten, bei allen Meinungsunterschieden im Gefängnis zusammenzuhalten, damit wir das dort überleben und die Bedingungen verbessern können. Und damit wir auch unseren Leuten, die nicht lesen und schreiben konnten, etwas beibringen können. Es war ein Ausdruck, der von Mandela kam: Er meinte, wir sollen dieses Gefängnis in eine "Universität" verwandeln. Und das haben wir gemacht.

Natürlich haben wir auch gelitten, vor allem in den ersten Jahren, als die Bedingungen sehr barbarisch waren. Sie haben alles Mögliche versucht, um uns zu erniedrigen. Aber bei politischen Gefangen ist das vergeblich. Wir waren von unseren Idealen überzeugt. Mich hat immer ein Satz von Schiller begleitet, den ich in sämtliche Bücher geschrieben habe, die ich im Gefängnis bekam: "Man kann uns niedrig behandeln, nicht erniedrigen."

Wie haben Sie die Wärter erlebt: als Sadisten oder als indoktrinierte Teilhaber des Systems?

Sie waren genauso Opfer des Systems wie wir. Vor allem für die jungen Wärter war diese Abgeschiedenheit auf der Insel schlimm. Das hat sie zum Teil noch frustrierter und sadistischer gemacht. Aber auch dagegen hatten wir eine Strategie. Wir haben gesagt, dass diese Leute uns genauso brauchen wie wir sie. Die meisten Wärter wollten durch Fernstudien ihre Qualifikation verbessern - und wir haben ihnen bei Geschichte, Mathematik oder rechtlichen Themen geholfen. Nach zwei, drei Jahren ist den meisten Wärtern klar geworden, dass wir keine Terroristen und Barbaren sind, wie es ihnen indoktriniert wurde. Diese Fraternisierung, die stattfand, wurde eine Gefahr für die Behörden. Deshalb haben sie dann alle zwei Jahre die Wärter ausgewechselt.

Welchen Eindruck machte Nelson Mandela auf Sie?

Abgesehen vom Alter waren wir auf politischer Ebene bei allen Gemeinsamkeiten - schließlich befanden wir uns im selben Kampf - doch sehr unterschiedlich. Er war und ist Panafrikanist, ich war Sozialist, bin es noch immer. Trotzdem ist mir in den Diskussionen mit ihm klar geworden, dass ich sehr wenig über die afrikanische Geschichte und Kultur wusste, womit ich mich daraufhin intensiver beschäftigt habe. Aber noch größer war sein Einfluss auf mich auf persönlicher Ebene: Er ist ein sehr ehrwürdiger Mann, den man nur bewundern kann. Er hat eine Mimik, die tatsächlich sehr eindrucksvoll ist. Er ist sehr diszipliniert, sehr respektvoll, auch wenn er ganz anderer Meinung ist. Er ist ein Mensch, der anderen zuhört und ihnen zeigt, dass er ihre Meinung schätzt. Das war für mich als junger Mensch sehr wichtig.

Wie sehen Sie das heutige Südafrika? Wie weit sind die rassistischen Vorurteile überwunden?

Die Rassenvorurteile werden noch lange anhalten. Das kapitalistische System reproduziert sich in Südafrika als eines, das auf der Rasse basiert. Obwohl allmählich auch einige schwarze Individuen in die kapitalistische Oberschicht aufgenommen werden, ist die Ungleichheit nicht nur eine soziale, sondern auch eine der Hautfarben. Der große Unterschied zu der Apartheid ist nun die schwarze Mittelklasse. Diese ist zum Teil schon während der Apartheid-Zeit entstanden, aber ihre Entwicklung ist durch die Post-Apartheid-Bedingungen sehr beschleunigt worden. Und das ist der ausschlaggebende Unterschied. Die Interessen dieser Klasse machen eine rückschrittliche Entwicklung in Südafrika unmöglich.

Neville Alexander
© © Gudrun Krieger

Sie gehen mit der Wahrheits- und Versöhnungskommmission, welche die Verbrechen der Apartheid untersuchen sollte, sehr hart ins Gericht. Was werfen Sie ihr vor?

Ich denke, dass weder Wahrheit noch Versöhnung über die Kommission möglich war. Es war also von Anfang an ein Fehlbegriff. Man konnte nur über grobe Menschenrechtsverletzungen eine gewisse Wahrheit herstellen, aber die Apartheid als System wurde kaum in den Vordergrund gerückt. Die Stützen des Systems - Justiz, Medien, Wirtschaft - wurden nicht vor die Kommission geladen. Versöhnung als Begriff bezieht sich auf zwei Individuen, kann sich aber nicht auf soziale Schichten und Kollektive beziehen. Es ist fast unverständlich, dass man sich dieser Illusion hingegeben hat. Es war ein Traum, der sich nun in einen Alptraum verwandelt hat - anstatt dass eine Versöhnung eintrat, sind die sozialen Auseinandersetzungen viel schlimmer geworden. Weil die soziale Ungleichheit noch stärker geworden ist als vor dem Ende der Apartheid, erleben wir so viele schreckliche kriminelle Akte in Südafrika. Verstärkt werden diese noch durch Drogen, die ja ein globales Problem sind.

Aber hat die Kommission nicht immerhin einen Diskurs über die Vergangenheit in Bewegung gesetzt?

Ein sehr wichtiges Positivum ist aus der Kommission hervorgegangen: dass sich die Elite zusammengesetzt und entschlossen hat, einen Überblick über die Zeitgeschichte Südafrikas zu bekommen. Sie haben sich Fragen gestellt wie: Was ist passiert? Hätte es anders kommen können? Ich glaube, dass diese Art von Rechenschaft für jede Demokratie ein Imperativ sein soll, der in jeder Generation institutionalisiert werden sollte. In Südafrika sehe ich diese Rechenschaft als ein unbeabsichtigtes Resultat der Kommission an.

Mittlerweile sind Sie vor allem als Sprachwissenschafter und in Bildungsfragen tätig und treten gemeinsam mit anderen Wissenschaftern vehement für einen bilingualen Unterricht ein. Ist das eine soziale Frage oder eine der Identität?

Beides. Vor allem ist es eine Frage der Menschenrechte und der Demokratie. Die große Mehrheit der Bevölkerung beherrscht Englisch nicht genügend, um sich mittels der englischen Sprache zu ermächtigen. Südafrika ist ein afrikanisches Land, kein englisches. Es muss möglich sein, dass die Leute auf sämtlichen Gebieten, etwa in der Wirtschaft, Politik und Kultur, ihre eigene Sprache verwenden können. Das ist ein Menschenrecht, und das wird von der Ober- und Mittelschicht Südafrikas - genau wie im übrigen Afrika - nicht gefördert. Deshalb stehen wir dafür ein, dass bilingualer Unterricht stattfinden soll. Die Leute sollen sowohl die Muttersprache als auch Englisch können, wenn sie sich in der modernen Welt bewähren wollen.

Auch die Frage nach der Identität ist entscheidend: Die Leute sind Afrikaner, sie können nicht Europäer werden. Ich glaube, dass die schöpferische Kraft und Spontanität der Menschen nur in der eigenen Sprache möglich sind.

Aber etwa in Südafrika gibt es ja elf anerkannte Amtssprachen.

In der Realität ist Englisch "the first among equals". Es ist die Hauptsprache. Afrikaans spielt noch immer eine wichtige Nebenrolle als offizielle Sprache, wird aber zielbewusst von der heutigen Regierung zurückgedrängt, ihr Status sinkt. Das ist meiner Ansicht nach ein großer Fehler. Afrikaans ist nicht die Sprache der Weißen, die große Mehrheit derer, die Afrikaans als Muttersprache haben, sind sogenannte Coloureds und Schwarze. Aber die meisten Leute wissen das nicht und meinen, dass Afrikaans die Sprache der Unterdrücker wäre. Das wäre, als ob man sagen würde, weil die Nazis deutschsprachig waren, soll Deutsch verschwinden. Das ist Quatsch. Aber in Südafrika wird das ernst gemeint, das ist ein Mythos im negativen Sinne.

Unterstützen Eltern oder Behörden die Idee, dass auch muttersprachlicher Unterricht stattfindet? Oder glauben sie, dass nur Englisch wichtig ist, weil über diese Sprache der soziale Aufstieg läuft?

Die meisten Leute glauben das, weil es von der Mittelklasse so gesehen und praktiziert wird. Aber ich glaube, dass sich das jetzt ändert. Die Regierung versteht allmählich wegen des Misserfolgs des schulischen Systems in Südafrika, vor allem was Alphabetisierungsraten anbelangt, dass man auf die Muttersprache zurückgehen muss. Ich denke, dass man auch in den Schulen der Townships eine bessere Infrastruktur schaffen und bessere Lehrer und Lehrerinnen anstellen wird. Es wird sich viel ändern, aber es wird 10, 20 oder 30 Jahre dauern.

Sie meinen in einem Aufsatz, dass Afrika eine Kontinuität zwischen Tradition und Moderne herstellen sollte. Ist die Sprache ein Schlüssel dafür?

Ganz bestimmt. Es geht nicht um entweder Englisch, Portugiesisch, Französisch oder Muttersprache, sondern um ein Sowohl/Als Auch. Diese Kontinuität zwischen Tradition und Moderne ist vor allem für Afrika sehr wichtig, weil im Afrika südlich der Sahara eine schriftliche Tradition, obwohl sie in bestimmten Ländern bestand und besteht, großteils nicht vorhanden ist. Für sämtliche Begriffe und Gegenstände in afrikanischen Sprachen sollte eine Terminologie gefunden werden - so wie man es in sämtlichen Sprachen der Welt tut. Phänomene, die von außen kommen, übersetzt man ja auch im Englischen und Deutschen in die eigenen Sprache, damit sie angeeignet werden können.

Philosophisch ist das auch eine ganz wichtige Frage. Es geht darum, ob intellektuelle Urheberrechte sinnvoll sind - eine Tabufrage, die die Leute nicht diskutieren wollen, weil man noch immer glaubt, dass aus dem Nichts etwas hervorgehen kann. Das stimmt nicht. Alles geht aus etwas Vorangegangenem hervor. Und in einem ganz ironischen Sinne geht alles auf Afrika zurück - wir sind ja letzten Endes alle Afrikaner (lacht).

Klaus Huhold, geboren 1977, ist Redakteur in der  "Außenpolitik"-Redaktion der "Wiener Zeitung".

Zur Person<br style="font-weight: bold;" /> <br style="font-weight: bold;" /> Neville Alexander, geboren am 22. Oktober 1936 in der Stadt Cradock in Südafrika, studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Kapstadt. Nach einer Diplomarbeit über das schlesische Barockdrama erhielt er ein Stipendium für die Universität Tübingen und promovierte dort 1961 mit einer Arbeit über Ger- hart Hauptmann.

Gleichzeitig schloss er sich schon in seiner Studienzeit dem Kampf gegen die Apartheid an. Er wurde 1963 verhaftet und zu zehn Jahren Gefängnis wegen Hochverrats verurteilt. Inhaftiert war er auf der berüchtigten Gefängnisinsel Robben Islands.

Nach dem Ende der Apartheid blieb er einer der intellektuellen Wegbegleiter Südafrikas, der sich zu Entwicklungen in seinem Land kritisch zu Wort meldet. Zudem ist Alexander einer der renommiertesten Linguisten Südafrikas. Er ist Leiter des Projekts "Study of Alternative Education in South Africa" an der Universität Kapstadt und gehört der "African Academy of Languages" an. 2008 wurde er mit dem Linguapax-Preis ausgezeichnet, der für Verdienste um sprachliche Vielfalt und mehrsprachige Erziehung vergeben wird. Über seine eigene, von Mehrsprachigkeit geprägte Lebensgeschichte berichtet er in dem von Lucijan Busch herausgegebenen Buch "Neville Alexander im Gespräch. Mit der Macht der Sprachen gegen die Sprache der Macht" (Drava Verlag).