Eine chinesische Juristin durchlebt ein Martyrium, seit sie Menschen helfen wollte, dass der Staat ihre Heime nicht zerstört.
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Ni Yulan ist buchstäblich am Boden zerstört. Auf einer Trage und mit Sauerstoffmaske wurde sie diese Woche vor ein Pekinger Gericht geschleppt, berichten ihre Tochter und ihr Anwalt. Ausländische Medien durften an dem "öffentlichen Prozess" ebenso wenig teilnehmen wie westliche Diplomaten, eine Verurteilung wegen Betrugs scheint sicher. Dabei hatte die Frau noch vor wenigen Jahren ein erfolgreiches und schönes Leben vor sich. Das änderte sich, nachdem sie versuchte, Menschen zu helfen, deren Häuser zerstört werden sollten.
Ni Yulan studierte Rechtswissenschaften an der Universität Peking. Sie wurde Anwältin und erhielt 1986 im Alter von 25 Jahren einen Posten bei der chinesischen Welthandelskorporation. Im Jahr 2002 begann China, sich auf die Olympischen Spiele 2008 vorzubereiten. Dazu gehörte der Abriss von Wohnbauten, um Platz für olympische Einrichtungen zu schaffen. Die Bewohner waren damit nicht glücklich. In Zeiten steigender Grundstückpreise hätten sie auch gerne eine Entschädigung erhalten.
Jedenfalls übernahm Ni einen dieser Fälle und filmte den Abriss des Hauses ihres Mandanten - sehr zum Missfallen der Polizei. Sie wurde verhaftet und verprügelt; ihr Steißbein brach. Seither geht sie auf Krücken. Wenige Monate nach ihrer Entlassung forderte sie von der Pekinger Stadtregierung eine Entschädigung. Stattdessen wurde Ni erneut verhaftet - wegen "Behinderung öffentlicher Unternehmungen". Dafür fasste sie eine einjährige Haftstrafe aus, die sie ihre Lizenz als Anwältin kostete.
Vier Monate vor Olympia geriet auch ihr eigenes Haus ins Visier der Platzschaffer. Eine Mauer, die Nis Heim umgab, wurde abgerissen. Der darauffolgende Protest brachte der Wiederholungstäterin zwei Jahre Haft ein. Ihre Berichte von der Zeit im Gefängnis zeichnen ein Bild des Sadismus: Die Krücken seien ihr weggenommen worden, sie habe täglich fünf Stockwerke der Anstalt hoch- und wieder hinunterkriechen müssen, der Gang auf die Toilette sei eine Qual, die "Hilfe" der Beamten eine Erniedrigung gewesen.
Währenddessen wurde ihr Haus abgerissen - samt Inventar. Es habe keine Vorwarnung gegeben, sagt ihr Mann, die Polizei habe ihm verboten, das Haus zu betreten. Entschädigung erhielt das Ehepaar keine. Nach ihrer erneuten Entlassung lebte Ni mit ihrem Mann in einem Zelt in einem Pekinger Park. Nachdem in den vergangenen Wochen bereits zwei andere Dissidenten zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, steht nun die 51-Jährige Ni erneut vor Gericht. Der Vorwurf: Beweismittelfälschung mit dem Vorsatz der Bereicherung und öffentliche Ruhestörung. Westliche Analysten meinen, China statuiere wieder einmal ein Exempel.