Die Zahl der Menschen mit Essstörungen steigt - die WGKK reagiert mit aufgebessertem Angebot und weist darauf hin, dass viele der rund 150.000 Betroffenen die Leistungen der Kasse gar nicht in Anspruch nehmen.
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Wien. Schnell ein Frühstück in der U-Bahn, Snacks vom Automaten oder Fastfood-Ketten. Die Versuchungen ungesunder Ernährung lauern an jeder Ecke. Oder umgekehrt: Schon der grüne Salat war zu viel, nichts darf mehr auf den Teller.
Essstörungen breiten sich aus und werden immer differenzierter behandelt. Ob Bulimie, Magersucht, Binge-Eating-Disorder (Essattacken mit Kontrollverlust ohne nachfolgende gewichtsreduzierende Maßnahmen) - Essstörungen zählen zu den nicht substanzgebundenen Süchten. Die Betroffenen sind einem Prozess ausgesetzt, den sie nicht mehr kontrollieren können. Zu Essstörungen im weitesten Sinne zählt auch die Fettleibigkeit (Adipositas).
Die Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK) bietet bereits seit dem Jahr 2006 nicht nur stationäre, sondern auch ambulante Hilfe an. Mit der Übernahme des Vereins Origo durch die Vinzenzgruppe hat die WGKK ihr Angebot nun überarbeitet und erweitert. Die ambulante Einrichtung "Sowhat" im 15. Bezirk bleibt damit wie gehabt - und wird aufgebessert. So werden statt der bisherigen zwei Jahre nun drei Jahre Behandlung voll bezahlt. Das Angebot soll laut WGKK-Chefin so niederschwellig wie möglich sein. Denn immer noch würden sehr viele Betroffene keinen Gebrauch davon machen. "Ein unverbindlicher Anruf bei Sowhat genügt, dann wird ein Termin vereinbart, wenn man das möchte, und danach wird ein individueller Therapieplan erarbeitet", so WGKK-Obfrau Ingrid Reischl zur "Wiener Zeitung". Das Telefongespräch sei anonym und kostenlos.
Das ambulante Angebot ist laut Reischl in Wien einzigartig. In den anderen Bundesländern würden nur stationäre Behandlungen und Psychotherapie angeboten. Nur in Niederösterreich gebe es noch ein ambulantes Angebot, aber nicht in diesem Ausmaß. "Die Situation auf dem Land ist natürlich eine andere als in Wien. Wir bieten engmaschige Behandlungen an und damit ist die Erreichbarkeit wichtig", so Reischl.
Die geschätzte Zahl der Betroffenen liegt bei 150.000. "Die Dunkelziffer ist natürlich viel höher", so die WGKK-Obfrau. Die Anzahl der erkrankten Menschen ist von 2007 bis 2014 um 19 Prozent angewachsen. Einen besonders hohen Anstieg beobachtet man bei den Mädchen. Von 100.000 Mädchen im Alter von 15 bis 24 Jahren erkrankten früher 20 an Magersucht. Heute sind es 50.
Aber auch Adipositas sei "fast epidemisch in Österreich", sagt Reischl, denn jeder Sechste sei adipös - übergewichtig sogar jeder Dritte. Der Anteil übergewichtiger 15-Jähriger ist zwischen 2001/02 und 2013/14 von 12 auf 15,5 Prozent gestiegen.
Für die Zunahme von Essstörungen macht Reischl die neue Essenskultur verantwortlich. "Wir essen nebenbei", sagt sie und weist auf die österreichweiten Angebote wie Revan (Richtig Essen von Anfang an) oder gesundes Schulbuffet hin. "Wir können als Krankenversicherung nicht die Welt retten, aber wir können dort ansetzen, wo wir die Kinder erreichen, etwa in der Schule", sagt Reischl.
Auch die ärztliche Leiterin von Sowhat, Christine Tretter, sieht den zunehmenden gesellschaftlichen, schulischen und von den Eltern kommenden Druck sowie eine fehlende Tischkultur verantwortlich. Bereits 70 Prozent der Kinder hätten einen Diätbezug, sagt sie. Tretter beklagt ein mangelndes Bewusstsein für Ernährung sowie die Zunahme eines ungesunden Körperkults, von dem auch immer mehr Männer betroffen sind. Diese können so in eine Essstörung schlittern.
Die Krankenkasse setzt auf Prävention, "weil wir wissen, dass es durch unbehandelte Essstörungen schwerwiegende Folgeerkrankungen gibt, die extrem teuer sind", so Reischl. Diese reichen von Störungen der Fruchtbarkeit über Nierenschäden bis zu Koronaren Herzkrankheiten.
Für Michael Heinisch, Geschäftsführer der Vinzenz Gruppe, sei das Hauptproblem bei essgestörten Personen, dass sie sich nicht melden würden. Er hofft auf mehr Zulauf durch die Übernahme. Das Team sei interdisziplinärer aufgestellt worden. Auch Diätologen und Bewegungstherapeuten sollen von nun an eingebunden werden.