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Nicht alle wollen feiern

Von Bettina Figl

Politik

20 Jahre EU-Mitglied: Lob, aber auch Kritik anlässlich des Jubiläums. Ein Viertel der Österreicher ist für den EU-Austritt.


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Wien. 93.000 Arbeitslose mehr, das Preisniveau um 4,5 Prozent höher. Wäre Österreich der EU nicht beigetreten, wären wir heute mit diesen Zahlen konfrontiert, sagte Wirtschaftskammer-Chef Christoph Leitl am Donnerstag vor Journalisten. Für ihn ist die EU "der faszinierendste Zusammenschluss in der Geschichte": Länder, die sich einst bekriegt haben, würden jetzt zusammenarbeiten. "Das ist eine Veränderung von einem massiven mörderischen Gegeneinander hin zu einem friedlichen Miteinander."

Am 1. Jänner 2015 jährt sich Österreichs EU-Beitritt zum 20. Mal, und auch die Industriellenvereinigung (IV) lobt die EU anlässlich dieses Jubiläums. "20 Jahre EU-Beitritt sind auf jeden Fall ein Grund zum Feiern. Bei allen Verbesserungen, die auf Ebene der EU möglich und nötig sein mögen - die EU hat Österreich mehr Exporte, mehr Wachstum und damit mehr Jobs gebracht", so IV-Generalsekretär Christoph Neumayer in einer Aussendung.

EU ist "friedensstiftend"

Wir erinnern uns: Bei einer Volksabstimmung im Juni 1994 haben zwei Drittel der Österreicher für den EU-Beitritt gestimmt. Heute steht die Mehrheit der Österreicher hinter dieser Wahl: 57 Prozent halten den Beitritt nach wie vor für die richtige Entscheidung, 67 Prozent wollen weiterhin in der EU bleiben. Das geht aus einer Studie im Auftrag der Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) hervor, die am Donnerstag von der ÖGfE präsentiert wurde. Demnach halten 85 Prozent der rund 1000 Befragten die EU für wirtschaftlich wichtig, mehr als zwei Drittel (69 Prozent) meinen, die EU sei "friedensstiftend".

"Vor dem Hintergrund der aktuellen Konflikte in der europäischen Nachbarschaft ist das Friedensargument entscheidend", so ÖGfE-Chef Paul Schmidt. Kritik gab es von 93 Prozent der Befragten für die Komplexität der EU. "Daran müssen wir arbeiten", sagte Leitl, und fordert ein Marketingbudget, um die Bevölkerung besser über EU-Themen zu informieren. Für Gewerkschaftsbund-Chef Erich Foglar ist es auffällig, dass in den letzten 20 Jahren die Zustimmung zur EU bei markanten Ereignissen (Beitrittsverhandlungen, Volksabstimmung, Wirtschaftskrise) in die Höhe geschnellt ist. Für Foglar ist die EU "ein sicherer Hafen", in dem sich Österreich besser durch die Krise manövriert hat. Die Rettungsschirme für angeschlagene Mitgliedsstaaten wie Griechenland nimmt er in Schutz. Hätte anstatt der Solidaritätszahlungen eine Abwertung stattgefunden, wären die Auswirkungen auf den österreichischen Arbeitsmarkt "enorm" gewesen, so Foglar.

Foglar will soziale Grundrechte

Fast die Hälfte der befragten Österreicher (49 Prozent) glaubt, die EU-Mitgliedschaft hätte Österreich mehr Vor- als Nachteile gebracht. Für 13 Prozent halten sich Pro und Contra die Waage, 37 Prozent äußern sich skeptisch. Der Großteil ist der Meinung, dass die Mitgliedschaft vor allem großen Unternehmen Vorteile gebracht hätte (86 Prozent). "Die Menschen haben zu Recht den Eindruck, dass die EU vor allem eine Gemeinschaft der Konzerne ist", sagt Foglar und fordert, soziale Grundrechte den Marktfreiheiten nicht länger unterzuordnen, sondern als gleichwertige Eckpfeiler der EU zu verankern.

Leitl: "Ziviler Ungehorsam"

Obwohl mehr als zwei Drittel der Österreicher (67 Prozent) in der EU bleiben möchten, sprechen sich auch 25 Prozent für einen Austritt aus. "Das darf man nicht ignorieren und nur Sonntagsreden halten", meint dazu Arbeiterkammer-Präsident Rudolf Kaske.

Er betont, für die Arbeitnehmer und Arbeitgeber gebe es anlässlich des 20-Jahr-Jubiläums "nicht viel zu feiern". Besonders die hohe Jugendarbeitslosigkeit - fünf Millionen Menschen der 24,5 Millionen Arbeitslosen in Europa sind unter 25 Jahre alt - bereite ihm Sorgen: "Ich habe das Gefühl, dass man die Jugendlichen oft alleine lässt und eine ,Generation Hoffnungslos‘ heranwächst."

Von Erasmus haben viele junge Menschen in Österreich profitiert: 70.000 sind bisher zum Studieren ins EU-Ausland gegangen. Und auch in der Wahrnehmung der Bevölkerung bringt die EU gerade der Jugend sehr viel: 52 Prozent glauben, dass Schüler, Studierende und Lehrlinge vom EU-Beitritt eher profitiert hätten. Für andere Gruppen gilt das nicht. Landwirte hätten eher Nachteile erfahren, sagen 56 Prozent, und 58 Prozent sehen für KMUs mehr Nachteile.

Auch Leitl sagt, gegen die "skandalöse Jugendarbeitslosigkeit" müsse etwas unternommen werden, und er fordert die EU zu einem Schulterschluss auf; etwa beim G20-Gipfel müssten die EU-Länder gemeinsam auftreten. Generell fordert Leitl "mehr Bewegung, weniger bürokratischen Mist" und nennt die EU-Allergenverordnung als Beispiel. Nach dieser EU-Verordnung müssen Betriebe allergene Inhaltsstoffe ihrer Speisen kennzeichnen, ansonsten ist mit hohen Strafen zu rechnen. In diesem Zusammenhang plädiert Leitl für einen "zivilen Ungehorsam, wenn es uns zu viel wird."

Großteil gegen EU-Erweiterung

Die Einführung des Euro sehen 61 Prozent der Befragten in der Rückschau als positiv, währen ebenfalls 61 Prozent die EU-Erweiterung ablehnen.

Und wie soll es im vereinten Europa weitergehen? Für Foglar ist es "dringend notwendig, die Kaufkraft und Investitionen innerhalb der EU auszuweiten, damit wir uns aus der Krise hinausinvestieren und nicht in eine Rezession hineinsparen." Einig sind sich die Sozialpartner, dass besonders im Bereich Wachstum und Beschäftigung etwas geschehen müsse, und auch Schmidt sagt: "Neben einem nachhaltigen Dialog über Europa brauchen wir jetzt vor allem konkrete Schritte für mehr Wachstum und Beschäftigung, um gerade jungen Menschen wieder Perspektiven zu geben." Der ÖGfE-Chef kritisiert überdies, dass die EU "gerade in Krisenzeiten zu orientierungslos wirkt, um Sicherheit vermitteln zu können".

Wissen

Für die Studie wurden 1040 Personen telefonisch befragt (repräsentativ für die Bevölkerung ab 16 Jahren, gewichtet nach Geschlecht, Alter, Bildung). Die Umfrage wurde im November 2014 von der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft im Auftrag der Gesellschaft für Europapolitik ÖGfE durchgeführt.