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"Nicht auf Schlagwörter vertrauen"

Von Walter Hämmerle

Politik

Vranitzky: "Politik ist nicht dazu da, gefällige Meinungen zu apportieren." | "Debatten über Manager-Boni lösen keine Probleme." | "Wiener Zeitung": In welchem Teufelskreislauf befindet sich derzeit die europäische Sozialdemokratie? | Franz Vranitzky: Das lässt sich nicht isoliert betrachten. Zum einen befindet sich Europa selbst in einem Unruhezustand. Wir sind mitten im europäischen Integrationsprozess, der im Wesentlichen eine West-Ost-Vereinigung bei gravierenden Wohlstandsunterschieden ist.


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Zum anderen erleben wir große Wanderungsbewegungen aus nahen, aber auch exotischeren Ländern, die für große Teile der angestammten Bevölkerung schlicht unverständlich sind. Hier haben die Parteien ein Betätigungsfeld, das sie aus meiner Sicht noch gar nicht richtig erfasst haben. Tatsächlich ist diesbezüglich die EU noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen.

Das sind generelle Entwicklungen, die alle Parteien betreffen...

Da haben Sie recht . . .

...negativ betroffen scheint aber vor allem die Sozialdemokratie, die nach links wie in Deutschland oder nach rechts wie in Österreich verliert. Muss sie sich radikalisieren, um wieder Wähler zu gewinnen?

Ich würde nicht das Wort radikalisieren verwenden, aber die Partei muss sich profilieren. In Europa stehen Sozialdemokraten und Christlichsoziale für Fortschritt und Stabilität; Splittergruppen, ob nun von links oder rechts, können diese den Bürgern nicht liefern. Für Österreich heißt das: Strache mag zwar hinzugewinnen, aber er hat für kein Problem einen praktikablen Lösungsvorschlag.

Das trauen die Wähler im Angesicht der Wirtschaftskrise offensichtlich auch der Sozialdemokratie nicht mehr zu, obwohl diese doch gegen Manager-Gagen wettert.

Manager-Boni, Dienstwägen oder üppige Provisionen beschäftigen den Boulevard, sie haben aber nichts mit den Lösungen für die Probleme unserer Zeit zu tun. Politik muss zur Kenntnis nehmen, dass sich der Journalismus zunehmend boulevardisiert, und das betrifft auch Medien, die sich selbst gern zu Qualitätsmedien erklären. Politik ist aber nicht dazu da, gefällige Meinungen zu apportieren, sondern muss sich wieder ihrer grundsätzlichen Zielsetzungen bewusst werden und diese auch umsetzen.

Was sind diese grundsätzlichen Zielsetzungen?

Industriepolitisch bedeutet dies, eine Antwort auf die globale Konkurrenz aus China, Brasilien, Indien oder Russland zu finden, um die Abwanderung von Firmen zu verhindern. Beim Thema Bildung darf uns nicht die Standespolitik der Lehrergewerkschaft bildungspolitisch an den Rand drängen. Und auch das Gesundheitssystem und die Kassen müssen endlich reformiert werden. Kurz: Die Sozialdemokratie muss wieder zu ihrer Substanz finden und sollte nicht auf die Kraft leerer Schlagwörter vertrauen. Grundsätzlich gilt aber: Das Auf und Ab bei Wahlen gehört zur Demokratie, am Sonntag gab es auch gute Nachrichten für die Sozialdemokraten aus Portugal oder Brandenburg. Also kein Grund für Depressionen, vielmehr gilt: Ärmel hochkrempeln und Lösungen offensiv angehen!

Für die Wahlen in Wien, Burgenland und der Steiermark klammert sich die SPÖ an den Strohhalm, dass zuletzt stets die Nummer eins gewonnen hat. Zurecht?

Die Nummer eins hat immer einen Vorteil. Wir leben in einer Mediengesellschaft, in der viele Bürger politische Bewegungen anhand deren Führungspersonals identifiziert. Genießt dieses ihr Vertrauen, hat es auch ihre Stimmen.

Demokratiepolitisch ein Rückschritt?

Nein, weil ja die Personen demokratisch gewählt werden.

Franz Vranitzky (71) war von 1986-1997 Bundeskanzler, und von 1988-1997 SPÖ-Vorsitzender