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Nicht das Ziel ist das Ziel

Von Ernst Grabovszki

Reflexionen
Diethard Leopold, Pionier des Kyudo in Österreich, spannt seinen Bogen . . .
© Foto: Ernst Grabovszki

Bogenschießen im japanischen Stil: Kyudo ist nicht nur Sport, sondern lehrt Ruhe und Aufmerksamkeit - und wird seit 25 Jahren auch in Österreich betrieben.


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Die Abendsonne zeichnet durch das schmale Fenster eine Diagonale auf die dünnen Wände einer Halle aus Holz im 10. Wiener Gemeindebezirk. In der letzten Stunde sind ein paar Menschen gekommen, die einander freundlich begrüßen, danach aber kaum mehr miteinander sprechen. Sie verschwinden kurz hinter einer weißen Schiebewand und kommen, nachdem sie ihre Straßenkleidung abgelegt haben, in neuer Montur wieder hervor: einem weißen Hemd ("Gi"), Hosenrock ("Hakama") und weißen Socken ("Tabis"), deren großer Zeh von den anderen Zehen abgetrennt ist. Nach dieser Verwandlung ist alles anders. Jeder weiß, was zu tun ist.

Die Holzhalle, im Japanischen "Dojo" genannt, ist ein Übungsort. Hier trifft sich mehrmals pro Woche eine erlesene Schar von Menschen, die eine Leidenschaft teilen: "Kyudo", das japanische Bogenschießen. Das Betreten des Dojos "hat immer würdevoll und ohne Hast zu geschehen, selbst wenn man sich verspätet hat", steht in der "Dojo-Etikette" zu lesen. Die Halle ist auf einer Seite in Richtung einer überdachten Sandaufschüttung, an der Zielscheiben angebracht sind, offen.

An der Rückwand des Dojos liegen einige Matten, auf denen sich die Schützen vorbereiten. Sie spannen ihre Bögen, schnüren Handschuhe mit verstärktem Daumenaufsatz und machen den Eindruck, als wären sie in einer anderen Welt angekommen. Ihnen geht es um viel mehr, als nur einen Pfeil auf eine Scheibe zu befördern.

"Weg des Bogens"

Gerhard Binder ist Lehrer an einer Wiener Mittelschule und hat Kyudo - deutsch "Weg des Bogens" - vor 20 Jahren für sich entdeckt. Mittlerweile ist er Obmann des Wiener Kyudo-Vereins "Sei-shin" und so mit diesem Sport verbunden, dass er sich auch zu Hause einen Schießstand gebaut hat. Dabei war er von dieser stillen Kunst zunächst gar nicht angetan: "Am Anfang war mir Kyudo zu langsam. Doch der erste Eindruck hat getäuscht."

Binder hatte sich schon davor mit asiatischen Kampfsportarten intensiv beschäftigt, bekam aber irgendwann Mitleid mit seinen Gelenken. Und nachdem ihn ein Freund auf den Geschmack gebracht hatte, wechselte Binder kurzerhand das Kampfsport-Me-tier. Bereut hat er es nie, auch wenn er einige Geduld aufbringen musste, um sich in der neuen geistigen Umgebung zurechtzufinden.

Wer mit diesem Sport beginnt, darf also nicht damit rechnen, dass er nach einem Monat bereits in die Profiliga aufsteigt. Zunächst erlernt man das, was man bereits zu können glaubt: auf welche Weise man einen Fuß vor den anderen setzt, wie man sich im Dojo richtig bewegt, und vor allem eines: sich aus dem Alltag auszuklinken und für ein paar Stunden still zu sein. Man positioniert den Körper, versucht, richtig zu stehen und in jeder Hinsicht "gerade" zu sein. Die ersten Übungen mit dem Bogen macht man vor dem "Makiwara", einem mannshohen Gestell aus Reisstrohballen, in den man aus kurzer Distanz Übungspfeile schießt - vorausgesetzt, es gelingt einem, den Bogen korrekt zu spannen und den Pfeil derart zwischen Daumen und Zeigefinger zu klemmen, dass er nicht zu Boden fällt. Wer sich am Makiwara bewährt hat, hat die Grundzüge des Kyudo begriffen. Die muss man trotzdem Schritt für Schritt verbessern, indem man sich mit dem Material des Bogens und der Pfeile auseinandersetzt sowie den Umgang mit dem Bogen und die Körperhaltung perfektioniert.

Nach rund zwei Monaten und regelmäßigem Training kann man meist schon selbstständig schießen. Doch Zeit spielt im Kyudo keine Rolle. Wer dann darüber hinaus auch noch seinen Körper beherrscht, Bewegungsabläufe verstanden und internalisiert hat, darf zu Distanzpfeilen greifen und auf Zielscheiben schießen. Ab diesem Zeitpunkt wird der Schütze in die Zeremonie inte-griert, denn Kyudo ist eigentlich ein Gemeinschaftssport. Das Schießen folgt einem festgesetzten Rhythmus, der Ablauf der Zeremonie ist ebenfalls festgelegt: Mehrere Schützen postieren sich im gleichen Abstand zueinander an der Abschusslinie, nachdem sie sich langsam und bedächtig durch die Halle bewegt haben.

"Man kann nicht nur bei sich sein, sondern muss auch die Gruppe wahrnehmen", erklärt Binder. "Nicht das Individuum steht im Vordergrund, sondern die Gruppe. Nur der Schuss ist individuell, und sobald man abgeschossen hat, integriert man sich wieder in die Gruppe."

Der asymmetrische Langbogen ist rund 2,20 Meter lang. Der Pfeil wird nicht in der Mitte des Bogens abgeschossen, weil man so nicht den vollen Auszug erreichen würde. Deshalb wird der Pfeil unterhalb der Mitte in die Sehne gespannt, wodurch der Bogen eine höhere Spannung erreicht. Nach jahrhundertealter Tradition werden Kyudo-Bögen aus Bambus gefertigt. "Meinen Bogen habe ich seit 15 Jahren", erklärt Gerhard Binder, "er schießt wie am ersten Tag - und ich hatte ihn gebraucht gekauft." Günstigere Bögen sind aus Fiberglas oder Carbon.

Kyudo in Wien

Diethard Leopold gründete den Verein Sei-shin vor rund 25 Jahren und brachte damit Kyudo nach Österreich. In seiner ersten Zeit begnügte er sich mit einer Sporthalle in Floridsdorf, wo auch jetzt noch eine Gruppe schießt. Vor elf Jahren bekam der Verein ein Grundstück im 10. Bezirk von der Gemeinde Wien zur Verfügung gestellt, worauf das Dojo errichtet wurde. Montag, Mittwoch und Samstag wird trainiert. Der Verein hat rund 30 Mitglieder, ein Partnerverein ebenso viele.

In Wien sind noch zwei weitere Gruppen aktiv. Rund 100 Wiener haben sich diesem Bogensport verschrieben, gemeinsam mit einem Kyudo-Verein in Salzburg und Linz sind es rund 120 Begeisterte in ganz Österreich. Anders natürlich im Land der aufgehenden Sonne: 120.000 Japaner geben sich dieser Zeremonie hin, die nicht nur banale Bewegung ist. Jeder Blick, jeder Schritt sind Teil eines Programms, das seit Jahrhunderten einer bestimmten Abfolge gehorcht.

"Es mag steif aussehen, doch jede Bewegung hat einen Zweck", sagt Gerhard Binder. "Alles gehört zusammen: das Verhalten im Dojo, die Haltung zu den Dingen. Die Zielscheibe zu treffen steht nicht im Vordergrund, die Technik sehr wohl. Wenn man das Ziel verfehlt, ist man noch lange kein schlechter Schütze. Man versucht vielmehr, die Übung so zu verbessern, dass der Treffer eine Folge der richtigen Technik ist. Man sollte aber nicht den Anspruch haben, unbedingt treffen zu müssen. Natürlich ist jeder gefangen vom Ziel. Man kann sich diesem Gefühl nicht entziehen. Trotzdem sollte man den Fokus auf die Übung legen und vergessen, dass man treffen will."

Die Zeremonie hat aber auch praktische Gründe: Ursprünglich war Kyudo nur Samurai-Familien zugänglich, sodass sich mehrere Schulen entwickelten. Um Kyudo schließlich allen Bevölkerungsschichten zu öffnen, wurden die Stile vereinheitlicht.

Wer seine Schießtechnik verbessern möchte, braucht viel Geduld und muss Prüfungen absolvieren. Wie im Karate gibt es auch hier zehn Ränge (Dans). Gerhard Binder ist vierter Dan, Diethard Leopold ist sechster Dan Renshi ("Lehrer") und damit der höchstdekorierte Kyudoka in Österreich. Liam O’Brien, Präsident der United Kingdom Kyudo Association in London, ist der einzige 7. Dan in Europa. Höhere Ränge sind zumeist nur japanischen Schützen vorbehalten.

Doch schon ab dem dritten Dan wird es schwierig, in der Hierarchie aufzusteigen. Bei der dafür vorgesehenen Prüfung wird kon-trolliert, ob und wie man seine Schießtechnik verbessert hat. Schon mehrmals hat sich Gerhard Binder solchen Bewährungsproben unterzogen: "Man steht vor einem Bewertungsgremium, tatsächlich aber geht es um einen selbst und wie man mit dieser Situation umgeht. Es gehört auch dazu, dass man eine Prüfung einmal nicht besteht. Das ist auch eine Art von Feedback, mit dem man umgehen können muss."

Wie passen österreichische und japanische Kultur zusammen? Tatsächlich hat diese Beziehung in Österreich eine lange Tradition, die bis an den Beginn des 19. Jahrhunderts zu verfolgen ist. 1837 etwa vermachte der Japanforscher Philipp Franz von Sie-bold der Kaiserlichen Hofbibliothek rund sechzig japanische Bücher und regte damit weitere einschlägige Forschungen an. Nachdem sich Japan Mitte des 19. Jahrhunderts dem Westen geöffnet hatte, sorgten vor allem die Weltausstellungen für einen Popularitätsschub. Die Weltausstellung 1873 in Wien verbreitete den "Japonismus" bis in die Wohnzimmer.

Höflichkeit und Respekt

1897 wurde das "Vergnügungs-Etablissement Japan" in der Schiffgasse eröffnet, ein "Café im japanischen Styl". Das Kirschblütenfest in der Praterrotunde im Mai 1901 war schließlich Beweis dafür, dass japanisches Outfit gesellschaftsfähig geworden war. Und 1996 stellte sich heraus, dass der Alpensteingarten an der Südseite des Palmenhauses in Schönbrunn weniger mit Alpen als vielmehr mit den Richtlinien japanischer Gartenbaukunst zu tun hatte. Seit Mai 1999 ist dort wieder ein japanischer Garten zu sehen.

Aber auch alte Sportarten haben es aus Japan bis nach Österreich gebracht. Gerhard Binder: "Es ist etwas kurios: In Japan kommt Kyudo aus der konservativen Ecke. Es ist sehr traditionalistisch. In Europa ist das gar nicht der Fall. Respektieren muss man allerdings die Hierarchie. Höflichkeit und Respekt gegenüber höher Graduierten sind wesentlich, und das sind wir in unseren Breiten nicht so gewohnt wie die Asiaten. Es geht darum, seine Aufmerksamkeit auf Dinge zu lenken, präsent zu sein. Das ist eine Übung, die für uns Westler wohltuend sein kann. All das ist im japanischen Alltag natürlich eher verankert als in unserem." Auch die Höflichkeit ist nur eine weitere Form der Aufmerksamkeit.

Kyudo kann man bis ins hohe Alter betreiben. Wer es geschafft hat, so lange durchzuhalten, ist feinfühliger geworden. Wer sich intensiv mit der Technik des Bogenschießens auseinandergesetzt hat, ist an ihrer Komplexität gewachsen und hat seine Wahrnehmungsfähigkeit verbessert. Ein Ende findet dieser Prozess freilich nie. Und schließlich können gestresste Berufstätige mit diesem Sport zur Ruhe kommen.

"Wenn ich müde nach Hause komme und abends noch ein paar Pfeile schieße, tut mir das extrem gut", sagt Gerhard Binder. "Ich muss mich ausrichten, fokussieren, und das bringt den Geist sofort herunter. Man ist sofort wieder da. Und diesen Effekt erreicht man auch im Training, man wird einfach ruhiger."

Ernst Grabovszki ist Verleger, Universitätslektor und Trainer in Wien.