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Das Urteil der Wähler gilt gemeinhin als unumstößlich. Wer es wagt, diese Behauptung auch nur anzuzweifeln, steht schnell im Ruf, kein Demokrat zu sein.
Näher an der Realität ist eher das Gegenteil: Fast nichts wird von der Politik so häufig umgestoßen wie der Wählerwille. Und der Satz stammt nicht aus einem Lehrbuch für Verschwörungstheoretiker, die behaupten, dies schon immer gewusst zu haben. Um diese Tatsache zu erkennen, reicht es bereits, wenn man sich nur oberflächlich mit Politik beschäftigt.
In Griechenland etwa entschloss sich die Regierung, den Wählerwillen zweier Parlamentswahlen und eines Referendums zu ignorieren und stattdessen den von der Troika geforderten Sparkurs umzusetzen; in Frankreich gewann François Hollande mit den Versprechen, Millionäre mit 75 Prozent zu besteuern, die Arbeitslosigkeit zu senken, das Rentenalter auf 60 Jahre zu senken und die Sparpolitik zu beenden. Er tat fast nichts davon - und wenn doch, machte er es schnell wieder rückgängig. Und auch in Österreich regieren Parteien, die ihren Job dem Umstand verdanken, dass sich eine ausreichende Zahl an Bürgern noch einmal aufraffen konnte, ihren Reformversprechen zu glauben. In Dänemark und Irland mussten sogar EU-Referenden wiederholt werden, weil die Bürger im ersten Anlauf dagegen gestimmt hatten.
In der politischen Wirklichkeit ist der Wählerwille also ein denkbar flexibles Konstrukt - und verantwortlich dafür sind keineswegs immer nur die zuständigen Politiker. Die griechischen Bürger etwa hatten sich in demokratisch tadelloser Art und Weise dafür entschieden, im Euro zu bleiben und die Troika auf den Mond zu schießen. In der Realität erwies sich das allerdings als Frage von entweder-oder, und die Regierung in Athen hat sich am Ende für den Euro und gegen die Mondmission entschieden.
In Großbritannien hat sich nun eine knappe Mehrheit dafür entschieden, aus der EU auszutreten und im Genuss fast aller Annehmlichkeiten einer EU-Mitgliedschaft zu verbleiben, die Nachteile nicht mitinbegriffen selbstverständlich. Das kann man wollen - ob es sich auch erreichen lässt, ist dann wieder eine andere Frage. Wenn die Bedingungen sich ändern oder die Realität sich dem Versprechen widersetzt, wird jeder Wählerwille zum Fall für den Papierkorb. Warum sollte das beim Brexit-Votum anders sein?