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"Nicht jeder Betroffene ritzt sich!"

Von Dagmar Weidinger / WZ Online

Wissen
Wenn es um "Borderline" geht, brauchen nicht nur die Betroffenen, sondern auch ihre Angehörigen sowie professionelle Helfer Unterstützung.
© Maike Meid

"zebo" bietet Einzelberatung, Psychotherapie und Gruppen. | Expertin empfiehlt Skillstraining für akut Betroffene. | Wien/Maria-Enzersdorf. Seit Jänner gibt es das österreichweit erste Zentrum für die Borderline-Persönlichkeitsstörung ("zebo") in Maria-Enzersdorf Südstadt. Im Interview mit der Wiener Zeitung äußert die Gründerin, die integrative Therapeutin i.A.u.S. (in Ausbildung unter Supervision, Anm.), Irene Apfalter, Kritik am Behandlungspessimismus der Profis und ermutigt Betroffene und Angehörige zur Zusammenarbeit.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Wiener Zeitung": Sie haben Anfang Jänner die Beratungsstelle "zebo" in Maria Enzersdorf-Südstadt gegründet - können Sie uns kurz sagen, worum es dabei geht?

Irene Apfalter: Das "zebo" (Zentrum Borderline) ist eine Beratungsstelle zur Borderlinestörung und wendet sich sowohl an Betroffene und deren Angehörige als auch an jene, die im Gesundheits- und Sozialwesen mit von Borderline betroffenen Klienten arbeiten. Das Angebot reicht von persönlichen Beratungsgesprächen bis zu psychotherapeutischer Hilfe und Gruppen.

Für Betroffene ist die sogenannte "Skillsgruppe" besonders wichtig, ein Fertigkeitentraining, das von der Amerikanerin Marsha Linehan speziell für Borderline-Patienten entwickelt wurde. Hier lernen die Teilnehmer Spannungszustände zu reduzieren, sich selbst in Krisen zu helfen und bewusst mit ihren Emotionen umzugehen. Ein solches Skillstraining kann die Lebensqualität entscheidend erhöhen und ist als Ergänzung zur Psychotherapie gedacht.

Sie haben von Angehörigen und Betroffenen gesprochen, bei denen der Bedarf gut nachvollziehbar ist, was könnte professionelle Helfer dazu motivieren, zu Ihnen zu kommen?Irene Apfalter: Hier reicht das Angebot von persönlicher Einzelberatung bis zum Workshop "Borderline verstehen", in dem Professionisten gemeinsam mit interessierten Angehörigen in die Welt von Borderline-Betroffenen einsteigen. In der Arbeit mit Klienten, die an einer Borderline-Störung leiden, stößt man immer wieder an seine persönlichen Grenzen. Hier hilft neben einem guten Abgrenzungsvermögen eine empathische und zugewandte Haltung, denn wer nachvollziehen kann, was in seinem Gegenüber vor sich geht, kann gezielter unterstützen.

Wie kamen Sie auf die Idee, eine Borderline-Beratungsstelle zu gründen?Irene Apfalter: Es ist erstaunlich: Während für andere psychische Erkrankungen wie etwa für Suchterkrankungen oder Essstörungen schon länger spezialisierte Beratungsstellen in Österreich bestehen, gibt es eine solche für die Borderlinestörung bislang nicht. Und dies, obwohl laut Studien ein bis zwei Prozent der Bevölkerung am Borderline-Syndrom leiden, unter den Psychiatriepatienten sind es sogar 15 bis 20 Prozent.

Es gibt viele verschiedene Definitionen für das Borderline-Syndrom, wie würde Ihre persönliche aussehen?Irene Apfalter: Ich favorisiere die Definition der dialektisch-behavioralen Therapie, die Marsha Linehan formuliert hat. Demnach ist das Borderline-Syndrom eine Störung der Emotionsregulation, die sich in vielfältiger Weise im Erleben und Verhalten der Erkrankten zeigt: Überschießende Emotionen, die nur langsam wieder abflauen, können zu Beziehungsproblemen, zu unerträglichen Spannungszuständen, die durch Selbstverletzungen oder Suchtverhalten bekämpft werden, aber auch zum Gefühl der Leere führen, um nur ein paar Symptome der Erkrankung zu nennen.

Wie sieht das typische Erscheinungsbild einer Borderline-Persönlichkeitsstörung aus?Irene Apfalter: Es ist gar nicht so leicht, das typische Erscheinungsbild der Borderlinestörung zu beschreiben, ohne in Stereotypen und Überzeichnungen zu geraten. Wir haben es hier mit einer vielgestaltigen Erkrankung zu tun. Das zeigen schon die Diagnosekriterien, wie sie in den international verwendeten Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV beschrieben sind. Nehmen wir als Beispiel das DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Anm.) her: Es werden hier neun Kriterien genannt, von denen fünf zutreffen müssen, um die Diagnose Borderline stellen zu können. Welche fünf zutreffen, ist freilich von Menschen zu Mensch unterschiedlich und daraus ergibt sich auch ein unterschiedliches Erscheinungsbild der Erkrankung.

Dennoch möchte ich eine Antwort auf Ihre Frage versuchen: Menschen mit einer Borderlinestörung leiden an starken Stimmungsschwankungen und besonders heftigen Gefühlen. Als typisch wird auch das so genannte Schwarz-Weiß-Denken betrachtet, das keine Grautöne kennt, und die Welt in Gut und Böse einteilt. Das führt zu großen Problemen in der Beziehung zu anderen Menschen und belastet diese stark. Häufige Beziehungsabbrüche sind dann leider oft die Folge. Viele Patienten schildern ein chronisches Gefühl von Leere, das als sehr quälend erlebt wird. Ebenso belastend sind die häufigen Angst- und Spannungszustände, die in Selbstverletzungen münden können, denn der selbst zugefügte Schmerz führt sehr rasch zu einem Gefühl der Entspannung. Aber nicht jeder Betroffene "ritzt" sich! Immer wieder kann es zu Suizidideen und Suizidversuchen kommen bis hin zum vollzogenen Suizid. Manche "behandeln" ihre Spannungszustände mit Alkohol oder Drogen.

In Fachkreisen gibt es die Diskussion, ob eine Persönlichkeitsstörung überhaupt heilbar ist - wie stehen Sie zu diesem Thema?Irene Apfalter: Die Diskussion über die Heilbarkeit der Borderlinestörung halte ich für sehr wichtig. Ich persönlich wehre mich gegen den manchmal anzutreffenden Behandlungspessimismus und bin überzeugt, dass sich Menschen, die nachweislich an einer Borderlinestörung erkrankt sind, mithilfe zielgerichteter Unterstützung so entwickeln können, dass sie die Kriterien der Borderlinestörung nicht mehr erfüllen. Wahrscheinlich wird ihnen eine gewisse Vulnerabilität (Verwundbarkeit, Anm.) bleiben, und sie werden besser auf ihr seelisches Gleichgewicht achten müssen als andere Menschen. Möglichweise werden sie auch weiterhin Medikamente einnehmen - aber sie werden in der Lage sein, an ihren persönlichen und beruflichen Zielen zu arbeiten und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, wie es einem gesunden Mensch entspricht. Ich will damit freilich nicht den Eindruck erwecken, als sei es ein leichter Weg bis dorthin und nicht jeder Patient wird den Weg gleich weit mitgehen können. Hier gibt es große individuelle Unterschiede. Bei vielen Betroffenen mildern sich die Symptome jedenfalls erwiesenermaßen im dritten Lebensjahrzehnt deutlich ab.

Was würden Sie verzweifelten Eltern oder Partnern eines Betroffenen raten? Und welchen Ratschlag haben Sie für einen Betroffenen in einer akuten Krise?Irene Apfalter: Für Eltern und Partner von Betroffenen ist es sehr wichtig, sich von der Erkrankung nicht vereinnahmen zu lassen. Es ist sinnvoll, sich mit ihr auseinanderzusetzen und Informationen darüber zu sammeln, um den erkrankten Angehörigen besser zu verstehen. Das Verstehen sollte aber mit einer gehörigen Portion Abgrenzungsfähigkeit verbunden sein, die es erlaubt, nicht in das Krankheitsgeschehen einzusteigen und zu vermeiden, die Probleme des Anderen zu seinen eigenen zu machen. Die Verhaltensweisen von Borderline-Betroffenen können einen Sog entwickeln, dem man sich nur schwer entziehen kann. Umso wichtiger erscheint es mir, dass Eltern und Partner auf ihre Grenzen achten und sich ganz bewusst Gutes tun, um kontinuierlich für die eigene Entlastung zu sorgen. Damit helfen sie nicht nur sich, sondern auch ihren Angehörigen, die eine stabile Persönlichkeit an ihrer Seite brauchen.

Betroffenen in einer akuten Krise rate ich, nicht zu zögern, professionelle Hilfe anzunehmen, wenn das Hilfsangebot der Umgebung nicht mehr ausreicht oder eine solche hilfreiche Umgebung nicht vorhanden ist. Je nach dem, was im Vorfeld vereinbart wurde, kann der Psychiater oder der Psychotherapeut kontaktiert werden. Wenn dies nicht möglich ist, würde ich eine Fahrt ins zuständige Krankenhaus empfehlen. Natürlich ist es auf Dauer sinnvoll, Selbsthilfemöglichkeiten zu erlernen, um Krisen zu vermeiden beziehungsweise sie abzumildern, wenn sie erst einmal da sind. Diese persönlichen Selbsthilfestrategien erarbeiten sich Betroffene am besten im Skillstraining.

Würden Sie sagen, dass die Borderline-Persönlichkeitsstörung am Zunehmen ist?Irene Apfalter: Mein persönlicher Eindruck ist, dass die Zahl der Patienten, die die Diagnose Borderlinestörung erhalten, zunimmt. Das heißt aber noch nicht unbedingt, dass die Erkrankung auch wirklich am Zunehmen ist. Es kann auch bedeuten, dass die Diagnose schlichtweg bekannter ist als noch vor zehn Jahren und weniger Vorsicht besteht, die Diagnose zu vergeben. Man kann schon auch mal den Eindruck gewinnen, dass die Borderlinestörung eine Verlegenheitsdiagnose für schwierige Patienten ist.

Zentrum Borderline