"Uns fehlen Milieu- Studien unter Migranten." | Der Integrationsexperte beleuchtet regelmäßig für die "Wiener Zeitung" Aspekte der Migration . | "Wiener Zeitung": Die Integrationsdebatte kreist seit Jahren um Parallelgesellschaften, also in sich geschlossene Zuwanderer-Bezirke. Ein glücklicher Terminus?
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Kenan Güngör: Unter Parallelgesellschaften verstehen wir komplett duplizierte Gesellschaften samt eigener Infrastruktur wie Ökonomie, eigenem Schul- und Rechtssystem und so weiter. Das haben wir in Österreich nicht in dieser Form. In dem Moment, in dem man so zentrale Lebensbereiche wie Schule und Arbeit mit anderen teilt, lebt man nicht mehr in einer in sich geschlossenen Gesellschaft. Ich halte deshalb den Begriff für mehr verklärend als erklärend. Als einziges Beispiel fällt mir in Österreich die Aufteilung des Landes durch die beiden Parteien SPÖ und ÖVP ein. Die haben eigene Institutionen und Ressourcen, bis zu ÖAMTC, Arbö und Sozialpartnerschaft.
Welchen Begriff sollte man stattdessen gebrauchen?
Man könnte von Parallelmilieus sprechen. Milieus entstanden durch Verstädterung, Wohlstand und größeres Freizeitverhalten. In den letzten 100 Jahren gab es eine exponentielle Zunahme davon. Die Ausdifferenzierung von Milieus ist Gradmesser für unsere Freiheit. Milieus an sich sind in Ordnung: Menschen sind eher mit ähnlichen Menschen zusammen.
Wie lassen sich Milieus definieren?
Als Gruppe von Menschen, die Interesse und Lebenslage teilen. Die Milieuforschung hat gezeigt, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen Einkommen und Milieu gibt. In der gleichen Einkommensklasse gibt es 20 bis 30 verschiedene Milieus. Ein Künstler und ein KFZ-Mechaniker mit dem gleichen Einkommen leben in ganz verschiedenen Milieus. Zum Einkommen kommen Bildungskapital und Konsumgewohnheiten hinzu. Man kann auch nicht von ethnischen Gruppen auf Milieus schließen und umgekehrt. Es gibt offene und geschlossene, umfassendere und kleinere Milieus.
Warum erzeugen einige Migranten-Milieus so negative Reaktionen?
In Mitteleuropa verstand man unter Integration immer individuelle Integration - durch Sprache und Bildung, an deren Ende das Aufgehen in der Mehrheitsgesellschaft steht. Die Niederlande, England oder die USA unterstützen hingegen Netzwerke von Migranten wegen ihrer binnenintegrativen Funktion. Ethnisch abgekapselte Stadtteile sind für sie nicht problematisch. Unser Problem ist: Wir haben immer an individuelle Integration gedacht, daher verstören uns Verfestigungstendenzen bei Zuwanderer-Milieus, die wir als Bruch mit der eigenen, explizit nie ausgesprochenen Integrationsmaschinerie interpretieren.
Es findet aber auch individuelle Integration statt.
Sie passiert eher bei kleinen Gruppen mit bestimmtem Bildungsstand, aus christlich geprägten, geographisch nicht so entfernten Ländern. Wenn aber eine große Gruppe von Menschen von woanders einwandert, gibt es immer eine gewisse sozialräumliche Ballung. Mit dieser Trivialität haben wir uns nicht auseinandergesetzt. Sie wirkt nun verstörend und wir haben dafür den unbeholfenen Begriff des "Ghettos" gewählt.
"Ghettos" gelten auf jeden Fall als problematische Gebiet.
Manche Migrantengruppen haben ein schlechtes Image. Ihre Manifestation gilt als umso problematischer. Bei Franzosen oder Italienern ist das anders.
Aber es gibt doch auch tatsächlich problematische Milieus.
Man findet sie unter Migranten wie unter Einheimischen. Sie sind zunächst verfassungsrechtlich problematisch. Dazu gehören oft sehr ideologische Gruppen, auch religiöse. In Österreich fehlen Milieu-Studien unter Migranten, um die problematischen Milieus, über die wir dauernd sprechen, auszumachen. In Deutschland liegt hingegen die "Sinus-Studie" vor.
Welche problematischen Milieus gibt es laut dieser Studie?
Ein Milieu ist sehr streng religiös und konservativ (A3, siehe Grafik). Es ist zunächst weniger eine Gefahr für die Mehrheitsgesellschaft als für die Mitglieder der eigenen Community, die nicht die Möglichkeit haben hinauszukommen. Es wird unterschieden vom religiös-traditionellen Arbeitermilieu, das viel größer und im Arbeitsprozess integriert ist. Ich würde vom Arbeitermilieu mit religiöser Einfärbung sprechen. Der Unterschied ist: Die Religiosität definiert hier nicht die Milieu-Struktur. In Deutschland traten problematische Tendenzen zu Fundamentalismus und Zwangsheirat eher bei sozioökonomisch schwachen Milieus auf.
Gab es noch andere problematische Milieus?
Die zweite problematische Gruppe bilden aus Kriegsregionen kommende Flüchtlinge, die in Asylverfahren stecken (B3): Bei ihnen sind alle Strukturen zusammengebrochen. Sie sind mehrfach traumatisiert, ihr Wert- und Sozialsystem ist weggebrochen. Das dritte problematische Milieu bildet eine Art jugendlich-hedonistische Subkultur ohne Schulabschluss, die stark konsumorientiert ist (BC3). Statussymbole wie Autos sind sehr wichtig. Hier gibt es die meisten Kriminalitätsdelikte wegen fehlender Zukunftschancen. Aber dieses Milieu gibt es nicht nur unter Migranten.
Eine seriöse problemorientierte Integrationsdebatte müsste sich also auf diese Milieus konzentrieren?
Diese drei sind völlig verschieden, haben unterschiedliche Dynamiken und umfassen alle Generationen. Man müsste sie also einzeln betrachten. Die Integrationsdebatte leidet darunter, dass wir am meisten über diese Milieus reden, die nur etwa 30 Prozent der Migranten ausmachen, und die restlichen 70 Prozent mit ihrem Verhalten gleichsetzen. So wird die Unzufriedenheit zur "self-fullfilling-prophecy". Mir geht es nicht darum schönzureden, aber hier sind auch unsere Bilder das Problem. Wir bräuchten eine der Sinus-Studie vergleichbare Untersuchung in Österreich.
Wissen
Die Sinus-Studie, eine Erhebung in deutschen Migranten-Milieus, wurde von 2006 bis 2008 durchgeführt. 2072 repräsentative Migranten wurden ausführlich befragt. Die Studie nennt neben drei problematischen Milieus und einem religiösen Arbeitermilieu vier andere Milieus.
Das adaptive bürgerliche Milieu (B23) ist die pragmatische moderne Mitte der Migranten, die nach sozialer Integration und harmonischem Leben in sicheren Verhältnissen strebt. Das statusorientierte Milieu (AB12) ist klassisches Aufsteiger-Milieu, das mit Leistung Wohlstand und Anerkennung erreichen will.
Leistungsorientiert ist auch das multikulturelle Performermilieu (BC2) - jung, durch ein bi-kulturelles Selbstverständnis charakterisiert und dem westlichen Lebensstil verbunden. Das intellektuell-kosmopolitische Milieu (B12) ist ein aufgeklärtes, vielseitig interessiertes, global denkendes Bildungsmilieu mit multikultureller Grundhaltung.
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