So wie Europa nach 1945 müssen die USA im 21. Jahrhundert ihr Selbstbild an die Realität anpassen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 3 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Von den bisher 45 Präsidenten der Vereinigten Staaten war kaum einer seiner Vorgänger besser auf dieses Amt vorbereitet als Joseph Robinette Biden Jr., der am Mittwoch zum 46. Präsidenten angelobt wird. Joe Biden saß 36 Jahre im Senat und fungierte 8 Jahre als Vizepräsident von Barack Obama, dem 44. Präsidenten. Genau deshalb weiß keiner besser als er, wie wenig der Mann im Oval Office allein bewegen kann. Zu Hause wie international.
Ein Zurück zu alter Größe und Herrlichkeit wird wenig helfen. Das Rad der Zeit lässt sich auch in Washington nicht zurückdrehen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht der unter Druck geratenen Supermacht der gleiche schmerzvolle Erkenntnisprozess bevor, den die Europäer - zugegeben in einem anderen Maßstab - nach 1945 erfahren mussten. Um Paul-Henri Spaak zu paraphrasieren: Der Westen besteht aus zwei Arten von Staaten: Kleinen Staaten und kleinen Staaten, die noch nicht realisiert haben, dass sie klein sind.
Trotz ihrer wirtschaftlichen Dynamik sowie einer allzeit rund um den Erdball einsatzbereiten Armee schrumpft auch die Macht der USA im Angesicht globaler Probleme. Egal, ob es sich um Maßnahmen gegen den Klimawandel, den Wettstreit mit dem autoritären Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell Chinas, den Einsatz für Freihandel, den Kampf gegen islamistische Terroristen und säkulare Cyber-Krieger, der Kontrolle von Atomwaffen oder Tech-Monopolen handelt: Alle diese Aufgaben und etliche mehr übersteigen die Macht selbst der USA.
Biden und seinem Team ist das bewusst. Was dagegen steht, ist die Idee von der Ausnahmerolle, der Außergewöhnlichkeit der USA, die oft genug den biblischen Faden von der auserwählten Nation weiterspinnt: Diese Erzählung vom "großartig-sten Land der Welt" zieht sich durch die politische wie die populäre Kultur.
Joe Biden gelangt in einem Moment an die Spitze, in dem er an die verbindenden Kräfte eines gesunden Patriotismus appelliert, um die tiefen Gräben in der US-Gesellschaft zu überwinden. Die vergangenen vier Jahre haben deutlich gemacht, dass auch Amerika nicht gefeit ist vor der Zerreißprobe, die von vielfacher Seite an den liberalen Demokratien im frühen 21. Jahrhundert zerrt. Europa sollte Biden helfen, wo es kann. Das ist kein Anfall von Größenwahnsinn, sondern reinstes Eigeninteresse. Auf dass die Schande und Scham, die der 45. Präsident über das Land gebracht hat, nicht vergessen, aber überwunden wird. Und auch die Bilder von den zehntausenden schwerbewaffneten Soldaten, die Washington D.C. in den Tagen vor der Amtseinführung prägen.