Zum Hauptinhalt springen

Nicht nur Seuchen, auch Wirtschaftskrisen töten

Von Arno Tausch

Gastkommentare

Die Not des Südens Europas kracht auf die Arroganz des Nordens. Der europäische Sozialstaat wird konsequent stranguliert.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 4 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Der Huanan Seafood Market in Wuhan sollte im Jänner 2020 die Geschicke des 21. Jahrhunderts auf fatale Weise verändern. Wie die "New York Times" am 22. März zeigte, stoppte die Reisetätigkeit tausender Infizierter aus Wuhan auch dann nicht, als den chinesischen Behörden die schwere Seuche schon bekannt war. Nicht alle Länder reagierten mit der notwendigen Entschlossenheit auf die Krise wie Südkorea und Singapur. Die AUA strich ihre China-Flüge erst am 14. Februar 2020. Damals gab es in China schon 56.873 Infektionen und 1.593 Tote. In Europas Wirtschaftsgeschichte wird der 23. März 2020 als der Tag eingehen, an dem das Herzstück des neoliberalen finanzpolitischen Regelwerks der EU - die Maastricht-Kriterien - außer Kraft gesetzt wurde. Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet wegen der "Corona-Krise" mit einer weltweiten Rezession von minus 2,9 Prozent.

Aber Maastricht wird sich nicht so einfach über Bord werfen lassen. Schon beeilen sich die europäischen Eliten, den neoliberal konzipierten "Rettungsschirm" zu reaktivieren, der Italien und Spanien noch tiefer in die wirtschaftliche Stagnation und in noch tiefere Austerität treiben wird. Die Not des "Mezzogiorno Europeo" im Süden kracht auf die Arroganz des europäischen Nordens.

Die Maastricht-Logik ist grundlegend falsch

Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek hat schon 1939 die Grundlage für dieses Korsett des neoliberalen Europas gelegt: In einer Staatenunion müsse sich die (Wirtschafts-)Politik eben darauf beschränken, dauerhaft sicherzustellen, dass sich Eigeninitiative optimal entfalten könne. Hayek begrüßte explizit den dadurch entstehenden Druck nach unten auf die Löhne und die sozialen Bedingungen in einer solchen Staatenunion. Welch korrekte Prophezeiung, leider!

Verabschiedet sich Europa jetzt von diesem Zwangskorsett? Für den Empiriker steht an Hand der Daten des IWF fest, dass vor der großen Finanzkrise 2008 länger anhaltende Budgetüberschüsse in der Weltökonomie ohnehin äußerst selten waren. Großbritannien unter Premierministerin Margaret Thatcher gehört dazu (1988 bis 1990), die internationalen Finanzplätze Singapur und Luxemburg ebenso wie die Erdölstaaten Kuwait und Norwegen. Viel instruktiver für die "Normalverbraucher"-Regierungen in Europa sind aber die abschreckenden Beispiele Myanmar (unter der Militärherrschaft, 1977 bis 1983); Chile (unter der Militärdiktatur 1975/1976; 1979 bis 1981; 1987 bis 1988) sowie Rumänien (unter der kommunistischen Diktatur 1980 bis 1991). Ebenso bestürzend ist das letzte derartige Beispiel, Ex-Jugoslawien, das kurz vor seinem Zerfall von 1986 bis 1989 in drei Perioden einen Budgetüberschuss erreichte.

Die Maastricht-Logik ist grundlegend falsch. Anhänger der an Michal Kalecki (1899 bis 1970) orientierten Wirtschaftstheorie wurden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass Privatinvestitionen minus privatem Sparen plus Staatsdefizit und plus den Netto-Überschüssen des Exports zusammengezählt immer null ergeben. Wachstum kann also nur durch eine Steigerung der privaten Investitionen oder durch Deficit-Spending oder durch Außenhandelsüberschüsse beziehungsweise durch eine Verringerung der Sparquote generiert werden.

Der Ökonom Stephan Schulmeister hat völlig recht, wenn er angesichts der aktuellen horrenden Krise in den spanischen Altersheimen und Spitälern auch in Erinnerung ruft:

Die aktuelle "Verzahnung" von Defizit- und Schuldenregel im EU-Fiskalpakt verordnet (fast) allen EU-Ländern den "griechischen Weg" in die Depression. Der europäische Sozialstaat wird konsequent stranguliert.

Das von der EU-Kommission verwendete Konzept der "natürlichen Arbeitslosigkeit" zwingt die Mitgliedstaaten zu Lohnsenkung und Kürzung des Arbeitslosengeldes.

Exzess-Mortalitätals Folge von Krisen

Welche Zukunft steht vor uns? Seriöse Modellrechnungen von Warwick McKibbin und Roshen Fernando von der Australian National University rechnen global mit 15 bis 68 Millionen Toten aus der Corona-Infektion und einer Rezession von über 8 Prozent in den Ländern der Eurozone. Damit droht die gegenwärtige Pandemie die Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts zu werden. In ihrer Studie über die Grippeepidemie 1918 bis 1920 kamen Johnson und Mueller zu dem Schluss, dass damals weltweit 48 Millionen bis 100 Millionen Menschen der Spanischen Grippe zum Opfer fielen. Völlig folgerichtig spricht der Harvard-Ökonom Robert Barro schon von "rare macroeconomic disasters", die mit epochaler Wucht und Regelmäßigkeit die Weltwirtschaft in ihren Grundfesten erschüttern. Für Europa ergibt sich der Befund, dass die landesweiten Opferzahlen von damals mit den Corona-Zahlen von heute eine relativ große Übereinstimmung haben. So, als ob sich die Anfälligkeit für derartige Katastrophen im Süden Europas für immer festgesetzt habe.

Der italienische Ökonom Giovanni Andrea Cornia hat nachgewiesen, dass nicht nur Seuchen töten, sondern auch Wirtschaftskrisen. Cornias Thesen über die Excess Mortality brachten ihn zu der Feststellung, dass von 1989 bis 2014 in der Region Ostmitteleuropa und der ehemaligen UdSSR 18 Millionen Menschen den sukzessiven Wirtschaftseinbrüchen und Schocktherapien zum Opfer fielen. Auch die Brutto-Todesraten in Russland, wie sie von der Weltbank dokumentiert werden, geben Cornia in beängstigender Weise recht. Hätte Russland die Todesraten bei 10,0 pro 1.000 stabilisieren können wie in der Ära des sowjetischen Staatschefs Leonid Breschnew, würden sich bis heute 14 Millionen Todesfälle ergeben, die vermieden werden hätten können. Wäre die Bruttotodesrate bei 12,0 stabilisiert worden wie zu Beginn der Perestroika unter Michail Gorbatschow, wären auch noch 8 Millionen Menschenleben zu retten gewesen.

Die Toten des Fiskalpaktsund der Rettungsschirme

Der Sturm, der sich über Europa nach der zu erwartenden Gesundheits- und Wirtschaftskrise 2020/2021 zusammenbraut, ist bereits erkennbar. Das neoliberale Regelwerk, das Europas Weg auch nach der Finanzkrise 2008 bestimmte, hat nachweislich die Todesraten emporklettern lassen und genau zu jener Situation geführt, die Cornia in seinen Werken so beängstigend beschreibt. Heruntersanierte Spitäler in Italien, Spanien, der Abbau der öffentlichen Leistungen und Dienste bis an die Grenzen des Staatsversagens, wie etwa in Griechenland. Übertragen auf die Gesamtbevölkerung müssen wir von der These ausgehen, dass in der Eurozone die 2008er-Krise und die Krisen danach zum frühen Tod von 1,76 Millionen Menschen geführt haben.

Welcher Gesellschaftsvertrag auf den Ruinen der zu Ende gehenden Flug- und Kohlenstoff-Ökonomie sich abzeichnen wird, kann noch nicht vorausgesagt werden. Wenn 2018 weltweit täglich 126.000 Flugzeuge starteten, ist der ganze ökologische Irrsinn dieser Zivilisation erkennbar, und der simple Ruf nach einer sofortigen Kerosin-Steuer ist nur zu verständlich.

Der Welthandel und der globale Reiseverkehr müssen künftig wenigstens Mindeststandards genügen. Mit eine der robustesten Konsequenzen, die den Lebensstil des 21. Jahrhunderts verändern muss, wird auch sein, sich die "wunderbare Verfassung" (Zitat Bundespräsident Alexander Van der Bellen) der Europäischen Union, das "acquis communautaire" (den gemeinschaftlichen Besitzstand) in Erinnerung zu rufen, in dem die Erfüllung grundlegender phyto-sanitärer Bedingungen die Eintrittskarte für den Markt ist. Wenigstens das sollte auch im Weltmaßstab gelten.

Arno Tausch ist Honorarprofessor für Wirtschaftswissenschaften an der Corvinus-Universität in Budapest und Universitätsdozent für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck.