Fallschirm, Airbag oder Chirurgenfäden aus Kunst-Seide. | Reißfester als Stahl und elastischer als Gummi. | München. Spinnenseide ist reißfester als Stahl, sie ist elastischer als Gummi - und sie wird seit kurzem in größeren Mengen von der in München ansässigen AMSilk GmbH biotechnologisch produziert. Mit dem neuen Biomaterial können elastische Airbags, reißfeste Fallschirme oder kugelsichere Kleidung hergestellt werden.
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Am biotechnologischen Herstellungsverfahren für Spinnenseide hatten Wissenschafter in aller Welt mehr als 30 Jahre lang vergebens getüftelt. Erst 2005 gelang es US-Bioingenieuren, den genetischen Code der Spinnenseide zu entziffern. Im Verbund mit ihnen sowie mit israelischen und kanadischen Forschern testete auch der Münchner Biomaterial-Wissenschafter Thomas Scheibel, der mittlerweile an der Uni Bayreuth tätig ist, mehrere biotechnologische Verfahren für eine Massenproduktion.
Den Durchbruch brachte die Idee mit den sogenannten e.coli-Bakterien. Diesen pflanzte Scheibel die Gene für die Proteinherstellung einer Seidenart der Kreuz- oder Gartenspinne ein - und zwar jener Fäden, die sie herstellt, um sich blitzschnell zum Erdboden abzuseilen, wenn ihr Gefahr droht. Insgesamt kann die Kreuzspinne nämlich sieben verschiedene Netzfäden - teils extrem elastisch, teils extrem reißfest - in ihrem Körperinnern herstellen, die sie an ihren Beinen herauszieht und im Netz verwebt.
Bakterien produzieren Kreuzspinnen-Faden
Der Münchner Biomaterial-Experte entschied sich für den Abseil-Faden. Zwei Proteine, eADF3 (engineered Araneus Diadematus Fibroin) und eADF4, sind laut Scheibel unverzichtbar für Zugfestigkeit und Elastizität des Fadens. Die beiden Proteine werden nun biotechnologisch von e.coli-Bakterien hergestellt. Direkt aus den Fermentern werden sie als flüssig-klebriges Produkt abgezapft.
Doch erst mit der Nachbildung im Labor eines Spinnkanals aus Plexiglas mit mehreren hundert Mikrometer (ein Menschenhaar ist 60 bis 80 Mikrometer dick) breiten Öffnungen, die die physikalischen und chemischen Bedingungen der natürlichen Spinnenseidenherstellung exakt kopieren, gelang es, mehrere Arten Spinnenseide als Fäden zu ziehen beziehungsweise als Folie herzustellen.
Mit den beiden Mitentdeckern gründete Scheibel im Vorjahr das Biotech-Unternehmen AMSilk GmbH als Spin-off der TU München, die ebenfalls als Gesellschafter am Unternehmen beteiligt ist. Die TU München hatte seit 2004 für neun Erfindungen Schutzrechte beantragt. Inzwischen schützen mehr als
60 Patente weltweit das begehrte Spinnenseiden-Herstellungsverfahren.
Die AMSilk GmbH kann die Spinnenseide den Kundenbedürfnissen entsprechend passgenau anfertigen: als mechanisch stabile, chemisch wie auch gegen Umwelteinflüsse resistente, biokompatible Nanopartikel für die Medizintechnik oder als biokompatible Nähseide für Chirurgen zum Wundverschluss und zur Reparatur von Nervensträngen. Weil sie hypo-allergen sind, lassen sich damit auch medizinische Implantate beschichten.
Abfangnetze könnten Düsenjet auffangen
Für AMSilk-Geschäftsführer und Mitentdecker Axel Leimer ist das aber erst der Anfang. Er hat die Kosmetikindustrie - etwa Shampoos und Hautcremes (gute Hautverträglichkeit, "seidiger Glanz") - ebenso im Visier wie die Textilindustrie. Und neben strapazierfähiger Kleidung - kugelsichere Westen? Kein Problem! - könnten aus dem neuen Kunststoff auch Airbags oder Fallschirme hergestellt werden. Abfangnetze aus Spinnenseide von der gleichen Dicke wie Stahlseile könnten einen abstürzenden Düsenjet auffangen, ist Leimer überzeugt.
Kurzum: Die biotechnologische Spinnenseide offeriert ein breites Anwendungsspektrum in Pharmazie, Textil- und Baustoffindustrie. Scheibel wurde übrigens jüngst für sein Herstellungsverfahren in München mit dem Kurt-Beckurts-Preis der Helmholtz-Forschungseinrichtungen ausgezeichnet.