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Nicht nur Verlierer

Von WZ-Korrespondent Oliver Bilger

Politik

Fast jeder zweite Russe spürt Verschlechterung seiner wirtschaftlichen Lage - aber es gibt Ausnahmen.


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Moskau. Selbst in einer Krise gibt es Gewinner, zum Beispiel Alexej Boldow. Der 32-jährige Russe lebt mit seiner Freundin in einer Kleinstadt im Moskauer Umland. Gerade einmal 20 Quadratmeter misst das kleine Ein-Zimmer-Apartment, zu wenig, zumal in Kürze die gemeinsame Tochter zur Welt kommt. Deshalb sucht das Paar eine neue Bleibe: im Zentrum der russischen Hauptstadt.

Die Metropole zählt zu den teuersten Immobilienmärkten weltweit, das ändert auch die Rubelkrise nicht schlagartig. Boldow will dennoch 60 oder 70 Quadratmeter kaufen. Dafür müsste er normalerweise ein Vermögen zahlen, doch der junge Mann mit dem muskulösen Oberkörper und den langen braunen Haaren hat Glück: Er verdient seinen Lebensunterhalt überwiegend in Dollar oder Euro.

Boldow ist mit einer Produktionsfirma im Showgeschäft aktiv, zu seinen größten Aufträgen zählten die Olympischen Spiele in Sotschi. Oft arbeitet er mit ausländischen Partnern zusammen, seine Verträge sind dann nicht in Rubel. Als Mitte Dezember Russlands Währung dramatisch an Wert verlor, strömten viele aus der Mittelschicht in die Geschäfte, kauften Elektronik und Haushaltsgeräte, um ihr Erspartes zu retten. Boldow blieb zuhause. Ein wohlhabender Freund habe sechs Autos gekauft, erzählt der Unternehmer und promovierte Wirtschaftswissenschafter.

"Russen sind Krisen seit 25 Jahren gewöhnt"

Die Menschen hätten Angst, erklärt er, jeder erinnere sich an die schwere Bankenkrise im Jahr 1998, als die Bürger plötzlich ihre Ersparnisse verloren hatten. Boldow fürchtet, die russische Wirtschaft könne "in den nächsten fünf bis sechs Jahren" nicht wachsen. Dennoch lässt er sich, wie so viele, von solchen Aussichten nicht in Panik versetzen: "Russland ist es seit 25 Jahren gewohnt, mit Krisen zu leben."

Mit seinen Einnahmen ist Boldow ohnehin in einer komfortablen Situation, seine Kaufkraft hat sich, im Gegensatz zu den meisten im Land, schließlich erhöht. Eine Wohnung in Moskaus Zentrum "konnte ich mir vor einem Jahr nicht leisten", sagt er. "Das ist meine Chance."

Boldow ist einer der Gewinner der Krise, eine Ausnahme. Fast jeder Zweite im Land spürt eine Verschlechterung der eigenen materiellen Lage, wie jüngste Umfragen zeigen. Im Frühjahr könnte die Inflationsrate nach Schätzungen des Wirtschaftsministeriums auf bis zu 17 Prozent steigen. Gleichzeitig ergab eine Prüfung der Generalstaatsanwaltschaft, dass sich die Preise für verschiedene Lebensmittel seit Sommer zwischen zehn und 150 Prozent erhöht haben. Weitere Einschnitte stehen bevor. Die Regierung muss den Haushalt für fast alle Ressorts um zehn Prozent kürzen. Experten fürchten einen Anstieg der Arbeitslosigkeit von derzeit 5,5 auf 8 Prozent, und damit einhergehend sozialen Abstieg und steigende Armut.

Davon sind russische Oligarchen weit entfernt, doch auch sie haben in den vergangenen Wochen verloren. Das Vermögen der 20 wohlhabendsten im Land soll nach Berechnungen der Nachrichtenagentur Bloomberg und des Magazins "Forbes" im vergangenen Jahr 62 Milliarden bis 73,4 Milliarden US-Dollar geschrumpft sein, allein am "schwarzen" Montag und Dienstag Mitte Dezember um gut zehn Milliarden.

Zunehmend deutlich werden die Belastungen auch für viele Unternehmen, besonders Importeuren bereitet der schwache Rubel Probleme. Das trifft viele Firmen, denn Russland hat es über Jahre verabsäumt, die Wirtschaft zu diversifizieren und mehr selbst zu produzieren, stattdessen auf den Verkauf von Energieträgern gesetzt.

Gefahr einer Pleitewelle nicht gebannt

Energieunternehmen konnten zunächst teilweise vom schwachen Rubel profitieren, weil sie ihre Produkte in Dollar verkaufen. Doch dieses Modell stockt, wenn Nachfrage und Ölpreis weiter sinken. Gleichzeitig müssen sie Dollar-Kredite bedienen. Rosneft, Russland größter Ölförderer, musste den Staat bereits um finanzielle Hilfe anpumpen. Auch zwei Fluggesellschaften und eine Großbank bekamen Unterstützung von der Regierung. Die Gefahr einer Pleitewelle ist damit nicht gebannt. Erst vor wenigen Tagen warnte German Gref, Chef des größten russischen Geldinstituts Sberbank, vor einer tiefen Bankenkrise, sollte der Ölpreis dauerhaft bei weniger als 50 Dollar pro Barrel liegen.

Autoindustrie befürchtet Markteinbruch um ein Viertel

Dramatisch dürften die Folgen in diesem Jahr auch für die Autoindustrie sein. Dort fürchten die Unternehmen einen Markteinbruch von einem Viertel. Russische Betriebe wollen künftig stärker nach Abnehmern im Ausland suchen. Den Exporteuren kommt die Krise jedoch gelegen, ihre Waren sind endlich wettbewerbsfähiger auf den internationalen Märkten. Neben der Autobranche dürften sowohl die Unternehmen der Stahl-, Chemie- und Holzindustrie profitieren.

Weil wegen des schwachen Rubels weniger Russen zum Urlaub ins Ausland fliegen können, leiden Reiseanbieter. Heimischen Touristenregionen hingegen, allen voran dem Skigebiet um Sotschi, kommt die Situation zugute. Zu den orthodoxen Feiertagen Anfang Jänner erlebten gab es einen Besucheranstieg von bis zu 40 Prozent.

Verreisen will auch Alexej Boldow später noch in diesem Jahr; und auch seine Datscha, das Landhäuschen, möchte er bald renovieren. Das hänge von seinen nächsten Verträgen ab, sagt er. Nur eines trifft ihn dann aufgrund seiner Einnahmen in Euro und Dollar doch: Für die muss er nun mehr Steuern zahlen.