Östliche Gebiete erwirtschaften über ein Drittel des BIP der Ukraine.
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Wien/Ternopil. Die Stadt sieht auf den ersten Blick so aus, als ließe es sich in ihr ganz gut leben: Das westukrainische Ternopil ist gut gepflegt. Springbrunnen und Parks lockern das Stadtbild auf, Kinder ziehen auf dem Hauptplatz auf kleinen Plastikautos ihre Runden. Die oft gut gekleideten Menschen machen einen fröhlichen, ausgelassenen Eindruck, die Lokale an der Seepromenade sind gefüllt. Besucher würden wohl nicht auf die Idee kommen, dass sie sich in der Hauptstadt eines der ärmsten Gebiete der Ukraine befinden.
Wenn da nicht die Zettel wären, die an allen möglichen Wänden und Säulen hängen. "Großbritannien", "Deutschland", "Italien", auch "Slowakei" - Arbeitsangebote, immer mit Telefonnummer. Die Westukrainer wandern aus - um zu arbeiten und um den Daheimgebliebenen ein halbwegs erträgliches Leben zu ermöglichen. Dabei kann es auch in exotischere Destinationen gehen - auf einem der Zettel steht "Irak", ein paar Nummern sind schon abgerissen.
Kein Wunder: Der Westen der Ukraine - jene Gegend, die das Gros der Revolutionäre auf dem Maidan stellte - ist arm, verfügt über keine nennenswerte Industrie. "In der Ukraine ist der Osten reicher als der Westen", sagt Vasily Astrov, Ukraine-Experte am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW). Im Westen des Landes gibt es meist nur Landwirtschaft und in sehenswerten Städten wie Lemberg oder in den Karpaten ein wenig Tourismus. "Den Menschen bleibt oft nur die Auswanderung. Die privaten Überweisungen an die Daheimgebliebenen in der Ukraine sind eine wichtige Stütze", sagt der Analytiker der "Wiener Zeitung". "Die Armut im Westen befördert das. Der industriell geprägte Osten tut sich da ein wenig leichter, hier wandert man auch eher ins geographisch, sprachlich und kulturell nahe Russland aus", meint Astrov.
Eine Abspaltung des Südens und Ostens, eine Zweiteilung des Landes - an die Astrov nicht glaubt - wäre demgemäß für den ärmeren Westen eine Katastrophe. Die fünf östlichen Regionen mit den Industriezentren Donezk und Dnjepropetrowsk erwirtschaften deutlich über ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Ukraine - trotz der veralteten Industrieanlagen, die teilweise noch aus den 1950er Jahren stammen und die alles andere als energieeffizient arbeiten. Würden die Transferzahlungen aus dem Süden und Osten ausfallen, stünde die Restukraine vor gewaltigen Problemen. "Die Situation ist ohnedies jetzt schon angespannt", meint Astrov. "Die Ukraine muss jetzt eine Menge Auslandsschulden abbezahlen, das Land kaum noch Währungsreserven. Die wurden in den letzten Monaten zur Stabilisierung der Landeswährung Hryvnja verbraucht", meint der Experte.
Die Ukraine braucht nach dem Stopp der russischen Hilfszahlungen weiterhin dringend ein Rettungspaket vom Internationalen Währungsfonds (IWF). "Die neue Regierung ist offenbar bereit, die IWF-Kriterien zu erfüllen", sagt Astrov. Der Fonds verlangt einschneidende Maßnahmen zum Abbau des Budgetdefizits. Dazu gehören Pensionskürzungen, Erhöhungen der Energiepreise oder Einschnitte in das Gesundheits- und Schulwesen, die die alte Regierung unter Wiktor Janukowitsch nicht riskieren wollte. "Der neue Premier Arseni Jazenjuk hat bereits angekündigt, in diesem Jahr 15 bis 17 Prozent der Staatsausgaben zu kürzen - die Folge wird eine Rezession sein." Astrov erwartet für die Ukraine stürmische Zeiten: "Für die Realwirtschaft ist das natürlich kurzfristig eine Katastrophe, wenn vor allem bei Sozialausgaben gespart wird. Das wird die fragile soziale Lage im Land verschärfen", sagt der Experte. Am Montag stellte die Weltbank der Ukraine zusätzliche Hilfsgelder in Höhe von einer Milliarde Dollar noch in diesem Jahr in Aussicht - ebenfalls unter der Voraussetzung wirtschaftlicher Reformen.
Krim-Abspaltung wäre wirtschaftlich kein Problem
Die Abspaltung der Krim, die bereits so gut wie fix zu sein scheint, wäre für die Ukraine hingegen nicht so schlimm: "Die heute von Russen dominierte Halbinsel ist innerhalb der Ukraine Nettoempfänger und nicht sonderlich reich", meint Astrov. Eine Abspaltung der Halbinsel wäre daher für Kiew nicht katastrophal - jedenfalls aus wirtschaftlicher Sicht.