Der Allgemeinmediziner Michael Mayr über die geplanten Erstversorgungszentren und die Problematik der vielen verschiedenen Krankenkassen.
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"In Wirklichkeit hat kein Mensch Zeit, wenn er sich die Zeit nicht nimmt", sagt Michael Mayr, praktischer Arzt in Wien. Er spielt dabei auf die fortwährende Problematik an, die das Medizinwesen in Österreich schon lange beschäftigt: Der Zeitmangel. Im Interview spricht er darüber, wie das Medizinwesen hierzulande verbessert werden könnte. Und auch punkto Sozialversicherungswesen hat er interessante Überlegungen, wie man diese vor allem zum Nutzen der Patienten verändern könnte.
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"Wiener Zeitung": Sie haben viele Jahre als Pfleger in einem Krankenhaus gearbeitet. Welche Erfahrungen haben sie damals gemacht? War es damals besser?
Michael Mayr: Ich habe mein ganzes Studium so finanziert und meine Arbeit als Pfleger dazu verwendet, um zu lernen. Ich war aber nicht alle zehn Jahre auf der gleichen Station sondern habe versucht, auf den jeweiligen Stationen zu arbeiten, die ich gerade für mein Studium brauchte. Um alles darüber zu lernen. Und damit hab ich es eigentlich auf ein ziemliches Spektrum gebracht. Es gibt nahezu keine Station wo ich nicht gearbeitet habe.
Es war so wie im normalen Leben auch: Viele Dinge die uns scheinbar Zeit sparen, sind bei genauerer Betrachtung viel zeitintensiver. Es war zum Beispiel schon damals sinnvoll, dass der Arzt eine Visite am Krankenbett gemacht und mit dem Patienten geredet hat. Doch dann kam irgendwann der Trend zur sogenannten Sitzvisite, bei der man schlicht und einfach draußen vor dem Computer sitzt und den Pateinten durchspricht, sich berichten lässt. Der Patient hat dadurch für sein eigenes Empfinden einen viel zu kurzen Kontakt mit den Ärzten – auch wenn es medizinisch ausreicht und er optimal versorgt ist. Trotzdem fühlt sich ein Patient viel besser versorgt, wenn der Arzt die Zeit hat, und direkt mit dem Patienten spricht. Heute ist es meistens so, dass statt dessen die Patienten die Krankenschwestern und Pfleger gefragt werden, weil die Patienten die Hektik spüren und sich die Fragen gar nicht mehr formulieren trauen.
Ist mehr Personal die Lösung?
Der Knackpunkt ist, dass zu wenig Ärzte zu viel machen müssen. Dass Personal teuer ist, weiß ich, aber momentan wird sehr viel in Technik investiert während das Personal stiefkindlich behandelt wird und gewisse Arbeiten wieder zurück delegiert werden. Das zieht sich durch alle Bundesländer. Seit Anfang des Jahres darf das Pflegepersonal wieder Blut abnehmen und Venenzugänge stechen. Das ist auch gut, weil es den Beruf reizvoller macht. Aber in Wirklichkeit versucht man wieder nur, den Schwarzen Peter von einem zum anderen zu übertragen - die haben ja auch nicht mehr Zeit. Dann kann zwar die andere Berufsgruppe kurz verschnaufen, aber in Wirklichkeit lassen wir die Welle nur einmal nach rechts und dann wieder nach links schwappen und überlegen überhaupt nicht, warum es hin und her schwappt.
Ähnlich verhält es sich mit der Tendenz, dass nun wieder von der Ambulanz auf den niedergelassenen Bereich verschoben wird. Das ist ja nicht der erste Versuch und die Welle wird wieder zurückschwappen: Weil die Patienten dann irgendwann das Gefühl haben. "Es hört mir keiner mehr zu, also geh ich gleich ins Krankenhaus."
Das Problem ist, dass alle Bereiche unterbesetzt sind. Und das führt dazu, dass für die Patienten am Ende immer weniger Zeit überbleibt, weil jeder seine Sachen durchziehen muss. Zum Heilungsprozess gehört aber ein gewisser Zeitaufwand, auch für eine Diagnose braucht man Zeit. Es hat ja nicht ein jeder Schnupfen oder Husten. Doch wenn die eine Berufsgruppe unterbesetzt ist, dann löse ich das Problem nicht, wenn ich es einer anderen Berufsgruppe zuschanze, die selber unterbesetzt ist.
Allerdings ist es auch schwer zu prognostizieren, wie viele Patienten es akut gibt.
Natürlich. Wenn ich in der Früh in die Ordination gehe, weiß ich in der Regel nicht, was genau mich erwartet. Das kann sich in beide Richtungen entwickeln. Nur weil der eine Tag stark war, heißt das nicht, dass der nächste dann schwach sein wird. Menschen werden krank, wie es der Zufall will. Da ist nichts planbar. Planen kann man im Grunde nur im Vor- und im Nachsorgebereich, nicht im Akutbereich.
Das ändert aber nichts daran, dass auch die Spitäler aus dem letzten Loch pfeifen: Das Personal muss Nachtdienste und Wochenenddienste machen und wenig überraschend heißt es dann oft, sofern es die Krankheit erlaubt: "Gehen Sie damit zu ihrem Hausarzt." Und dann wird man als niedergelassener Arzt damit konfrontiert: Bei Nahtentfernungen etwa, wenn unter dem Verband keine Naht sondern eine Klammer ist. Natürlich kann jeder Arzt eine Klammer entfernen, das ist überhaupt keine Hexerei. Aber das Versicherungssystem stellt uns keine Hilfsmittel dafür zur Verfügung. Genauso ist es bei den sterilen Wundverbänden, die wir eben falls nicht von den Versicherungsträgern bekommen.
Warum ist das so?
Das Leistungsspektrum ist bei den Kassen völlig unterschiedlich. Die Krankenkasse der gewerblichen Wirtschaft Leistungen vergütet anders als etwa die Kasse der Beamten oder die Kasse der Gemeinde-Wien-Bediensteten oder eben die Gebietskrankenkassen. Bei letzteren werden viele Leistungen nicht vergütet, die andere Kassen sehr wohl übernehmen. Dass die verschiedenen Berufsgruppen in der Vergangenheit ihre eigene medizinische Versorgung aufgebaut haben, das hatte schon seine Berechtigung. Aber wir haben den Übergang in die moderne Welt versäumt, was das Versicherungssystem betrifft.
Vor allem sollten wir hinterfragen, warum nicht alle Menschen die gleiche Leistung bekommen und warum tatsächlich neun Gebietskrankenkassen unterschiedliche Leistungen haben. Es bringt wenig, zu diskutieren, wie viele Krankenkassen wir uns leisten wollen oder nicht, sondern wir sollten hinterfragen: wenn wir verschiedene Krankenkassen haben, warum sind die unterschiedlich?
Was sollte diesbezüglich Ihrer Ansicht nach geschehen?
Bewegen kann man nur was, wenn man von jeder Versicherung das Beste rausnimmt, und die Veränderung langsam herbeizuführt. Das gelingt nur wenn man sagt: "Ok, lasst die Versicherungen wie sie sind, aber versucht, die Leistungen zu harmonisieren, versucht, dass es für die Patienten völlig egal ist, zu welcher Versicherung sie gehören." Darüber wird aber nie gesprochen. Ein weiterer Nachteil von Gkk-Patienten ist, dass sie nur alle drei Monate entschieden können, ob sie den Arzt wechseln möchten, während die SVA das monatlich zulässt und die BVA wiederum sagt, der Versicherte bestimmt, was er will - er könnte theoretisch vom Arzt rausgehen und augenblicklich zum Nächsten gehen und versichert bleiben. Es ist vollkommen irrelevant, ob wir 20 oder 30 Verwaltungszentralen haben oder nur zwei oder eine. Es geht weniger um die Frage der Zusammenlegung sondern wie man es für den Patienten besser machen kann!
Das heißt nicht, dass man mit einem Schlag alles Alte abschaffen muss, sondern dass man sich daraus die Rosinen rauspickt. Und dass man auch die Größe hat zu sagen, dass das, was vor 50 Jahren sehr gut war in der Gegenwart nicht mehr so funktioniert. Es ist ja in vielen Bereichen so, dass das Alte verändert werden musste.
Und welche Nachteile hat das gegenwärtige Versicherungssystem für den praktischen Arzt?
Zu den Nachteilen zählt zum Beispiel, dass man mit den verschiedensten Modellen der Abrechnung konfrontiert ist: Die Gebietskrankenkassa zahlt mir pro Patient pauschal im Quartal 36 Euro brutto, egal wie oft der Patient kommt. Bei der SVA beträgt der Fixbetrag pro Monat 15 Euro. Die niedergelassenen Ärzte werden also nach Köpfen pauschaliert bezahlt. Wenn ich in einer Stunde doppelt so viele Patienten untersuche und doppelt so viel verdiene, dann ist die Versuchung relativ groß, das so zu machen.
Erklärt dies den Zulauf zu den Wahlärzten?
Notgedrungen, weil niedergelassene Ärzte nicht nach Stunden, wie in den Spitälern, bezahlt werden. Ich hab das für mich so gelöst, dass ich einen Doppeljob habe. Denn so wie ich die Ordination betreibe, ist das reine Liebhaberei und an sich nicht lebensfähig. Weil ich mir Zeit nehme. Ich habe mich ausgeklinkt, weil das klare Denken nicht beeinflusst werden darf, egal ob das finanziell klug ist oder nicht. Die breite Masse geht aber nicht zu Wahlärzten. Das ist auch nicht die Lösung. Ein Wahlarzt kann ein Zusatzangebot sein, aber die Basisversorgung sollte schon von einer vernünftigen Krankenversicherung kommen.
Auch in der medizinischen Ausbildung wird es Änderungen geben, wie sollte eine solche aussehen?
Ich sehe den Arztberuf als einen Lehrberuf. Der Universitätsanteil ist sicherlich wichtig, um die Basis zu haben, aber alles was danach kommt, hängt davon ab, welche Lehrer man hat. Und neben den Ärzten sind die besten Lehrer auch die Patienten, die man im Laufe der Zeit gesehen hat. Wir lernen vor allem durch die Erfahrung, die uns andere vermitteln. Es ist daher ein riesiges Glück, wenn man an die richtigen Leute kommt. Denn ein großer Fehler, den man als Arzt machen kann, ist zu glauben, dass man alles kann. Deshalb ist der Austausch mit Kollegen sehr wichtig.
Gehen die Pläne zur Primärversorgung nicht in diese Richtung?
An sich ja. Im Krankenhaus hat man eine Morgenbesprechung, eine Mittagsbesprechung, dazwischen eine Röntgenbesprechung. Man läuft sich ständig über den Weg und hat so die Möglichkeit, sich auszutauschen. Auch für niedergelassene Ärzte ist es wichtig, ein solches Netzwerk zu haben. Oder dass man vielleicht noch einen Lehrer kennt, der weiterhin dazu bereit ist, in seiner Freizeit Fragen zu beantworten. Und manchmal muss man als Arzt auch einem Patienten sagen können: "Es tut mir leid, darauf kann ich Ihnen im Augenblick noch keine Antwort geben."
Andererseits geht die Primärversorgung den falschen Weg, wenn sie wieder über Kassenverträge abgerechnet werden. Meiner Meinung können solche Versorgungszentren nur wie ein Ambulatorium funktionieren, damit man die Möglichkeit hat, auf Labor, Ultraschall, Röntgen etc. zurückzugreifen. Ein Beispiel: Eine sehr unangenehme Situation entsteht, wenn am Freitagnachmittag jemand mit einem Problem kommt. Ich komme zwar sehr nah an die Diagnose und Problemlösung ran, aber ich weiß auch: vor Montag gibt es keinen Ultraschall und kein Röntgen. Dann muss man entscheiden: Ist das jetzt so dringlich, dass der Patient die Tagesambulanz braucht oder nicht. Da wäre es schon ein riesiger Vorteil, wenn es solche Ambulanzen gäbe.
Auch wäre es enorm wichtig, dass man in diese Versorgungszentren auch Sozialberufe integriert. Das fehlt im niedergelassenen Bereich völlig.
ELGA bietet auch die Möglichkeit der Vernetzung, wenngleich auf andere Art. Was halten Sie davon?
Bei der elektronischen Gesundheitsakte bin ich nach wie vor der Meinung, dass man es zweiteilig sehen soll. Es soll jeder vitale Mensch sagen können, dass er Elga nicht will, man sollte nicht zwangsverpflichten. Aber für eine riesengroße Patientengruppe wäre sie riesiger Vorteil : Es ist unglaublich, wie wenig sich manche Menschen mit ihrer Gesundheit auseinandersetzen, wie wenig sie Ahnung haben, wie ihre Diagnosen, ihre Therapie heißt, die da verordnet wurde. Oder: Tabletten werden immer noch nach Farbe und Schachtel beurteilt und nicht nach Namen und Wirkstoff. Außerdem gibt es eine große Patientengruppe, die gar nicht darüber nachdenkt, wie oft sie eine Untersuchung schon gemacht hat. So gesehen wär es gut, wenn man als Arzt Laboruntersuchungen, Röntgenuntersuchungen, CT-und MR-Untersuchungen abfragen könnte.
Die Bedenken von Datenschützern teilen Sie nicht?
Wenn man es schafft, Bankgeschäfte so sicher zu gestalten, dann wird es wohl möglich sein, dass man auch in Elga nicht wahllos herumstochern kann. Wenn man regelmäßig bei Amazon einkauft, ist man viel mehr durchleuchtet. Auch bin ich sicher, dass wenn man über jemanden Informationen rausfinden möchte, das auch kann: Hacker knacken alles.
Auch denken wir zum Beispiel überhaupt nicht darüber nach, wenn zum Beispiel alle Spitäler der Gemeinde Wien oder der Vinzenz-Holding untereinander vernetzt sind. Wir haben nur keine Quervernetzung, aber in sich sind alle System e vernetzt. Das ist sehr positiv, das hat vieles zum Guten entwickelt. Das ist ja auch viel effizienter.
Unter den niedergelassenen Ärzten gibt es in all diesen Themenfeldern allerdings sehr unterschiedliche Positionen. Kann es jemals zu einer Lösung kommen, die für alle zufriedenstellend ist?
Wir würden ein ziemlich weises Wesen brauchen, das versucht, unsere persönlichen Bedürfnisse auf einen Nenner zu bringen. Damit aus den Einzelbedürfnissen am Ende etwas vernünftig Neues herauskommt. Jede Veränderung ist eine Herausforderung. Man entwickelt sich weiter und gerade wenn man mit Patienten zu tun hat, gibt es keinen Tag, an dem man sich nicht weiter entwickelt und nichts dazu lernt. In dem Moment, wenn man nichts mehr dazu lernt, wird man träge. Dann ist der Stillstand da, und das ist immer schlecht.
Alle Gesundheitsberufe sollten am gleichen Strang ziehen. Dass keiner wichtiger ist als der andere und keiner besser ist als der andere. So wie die aktuelle Pink Floyd Platte (lacht): Die Summer aus allem ist größer als die einzelnen Teile. Wir können den Menschen nur deshalb so gesund halten, weil wir alle zusammen versuchen, das Beste draus zu machen.
Zur Person: Dr. Michael Mayr ist seit ... als Kassenärztin im 7. Bezirk tätig. Daneben ist er im Vorstand des Vereins "Teddy Schwarzohr", der sich für chronisch kranke und durch Schicksalsschläge benachteiligte Kinder einsetzt.
Link: http://www.teddyschwarzohr.at