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"Nicht Schuldige suchen!"

Von Heiner Boberski

Politik
Christiane Spiel: "Man müsste im System mit allen Reformen gleichzeitig beginnen." Foto: Newald

Was bedeutet Bildung und wie erwirbt man sie? | Bildungspolitik dreht sich seit Jahren im Kreis. |
§§" Zeitung": Man feiert mit einem Symposium "10 Jahre Bildungspsychologie und Evaluation an der Universität Wien". Stammt diese Disziplin aus Wien? | Christiane Spiel: Wir haben die Bildungspsychologie als neue Disziplin in den letzten zehn Jahren an der Universität Wien entwickelt. Heuer ist auch das erste Buch über Bildungspsychologie erschienen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wir haben sie auch im angelsächsischen Raum als "Bildung-Psychology" eingeführt. Dort wurde ja auch der deutsche Begriff "Kindergarten" übernommen. Wir haben Bildungspsychologie so definiert, dass wir ein Strukturmodell haben, dass drei Dimensionen hat. Eine Dimension ist die Bildungskarriere, die quasi von der Wiege bis zur Bahre geht, Bildung zieht sich durch das ganze Leben.

Es heißt: "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr." Gilt das auch für das Erlernen des richtigen Lernens? Sind Lernprozesse der Hauptgegenstand der Bildungspsychologie?

Erlernen kann man es schon noch, aber es wird immer schwieriger. Wenn ich das später lerne, muss ich oft gegen viele frühere, oft "schlechtere" Lernerfahrungen ankämpfen. Es geht in der Bildungspsychologie um zwei Dinge: Bildung definieren wir einerseits als Prozess, anderseits als Produkt. Welche Eigenschaften hat jemand, der gebildet ist, und wie erwerbe ich diese Eigenschaften? Darüber, welche Eigenschaften wünschenswert sind, gibt es einen gesellschaftlichen Diskurs. Da bestehen Unterschiede je nach Region, Zeit und Milieu.

Geht es der Psychologie nicht immer auch um Personen?

Ja, die Psychologie ist primär auf das Individuum eingestellt, das ist die dritte Dimension der Bildungspsychologie neben Bildungskarrieren und den Aufgaben von Bildungspsychologinnen und -psychologen: die Ebene der Lehrer und Schüler.

Wir schauen aber auch auf Institutionen als Ganzes: Kindergärten, Schulen, Universitäten. Auf der Makroebene geht es um Fragen der Bildungspolitik. Wenn man nachhaltig am System etwas ändern will, sollte man weggehen von der individuellen Fortbildung der Lehrer und mit ganzen Schulen arbeiten.

Wo muss man im österreichischen System ansetzen?

Aus meiner persönlichen Sicht sollten wir Unterschiede ausgleichen, ohne dass wir die Begabten vernachlässigen. Die Bildungskarrieren werden in Österreich quasi vererbt. Die Schule bräuchte andere Strukturen, in der Ganztagsschule gäbe es eine längere gemeinsame Zeit. Wenn 20 Prozent nicht sinnverstehend lesen können, schadet das nicht nur diesen Individuen, sondern der ganzen Gesellschaft. Die Schule ist nicht allein verantwortlich, hat aber die Möglichkeit, zu kompensieren. Die Lehrpersonen müssten nicht für alles da sein. Es müssten mehr "schulfremde" Personen, Psychologen und Sozialarbeiter, eingreifen.

Ich erlebe in der Bildungspolitik ständig Déjà-vu-Erlebnisse: Wenn man nicht zuerst das macht, zum Beispiel eine neue Lehrerausbildung, geht das nicht und so weiter. Man müsste mit allem zugleich beginnen. Es hat mit der Kultur eines Landes zu tun, ob wissenschaftliche Erkenntnisse auch umgesetzt werden. Vor allem in England unter Tony Blair hat man es getan. Bei uns scheint es in manchen Politikfeldern sehr schwierig zu sein, evidence based policy zu betreiben.

Ist es angesichts der Sparmaßnahmen verständlich, wenn ein weitgehend freier Zugang zu den Universitäten herrscht und andererseits mit dem zehnten Lebensjahr die Bildungsweichen gestellt werden?

Unter der Annahme, dass das Geld endlich ist, müsste man wesentlich mehr in den frühen Jahren investieren. Im Kindergarten wäre es am leichtesten und am kostengünstigsten. Die ganze Literatur zeigt: Je früher man interveniert, umso besser. Die frühesten Maßnahmen haben die größten Wirkungen, um Defizite auszugleichen, aber auch um Begabungen zu fördern.

Wenn es dann kein Geld mehr für freien Hochschulzugang gibt, so sollte es doch für alle die gleichen, fairen Bedingungen geben, und zwar in allen Fächern Anforderungsprofile: Aufgabenstellungen, die einerseits prüfen, wie die Motivation ist, aber auch, wie gut jemand Wissen anwenden kann.

Wie sollte man auf die neue Pisa-Studie reagieren?

Der erste Schritt, das Wichtigste ist: Lassen wir die Suche nach den Schuldigen! Damit wird nur Porzellan zerschlagen, und es kommt nichts Konstruktives heraus. Wir müssen zum Handeln kommen und endlich Nägel mit Köpfen machen bei der Organisationsform der gemeinsamen Schule und der Ganztagsschule. Und parallel brauchen wir eine neue Lehrerausbildung.

Buchtipp: Bildungspsychologie. Von Christiane Spiel, Barbara Schober, Petra Wagner. Hogrefe Verlag, 457 Seiten, 41,10 Euro.