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Der Wunsch zu einer europäischen Vereinheitlichung der Studiensysteme hat nun auch in Österreich eine Diskussion über eine Einführung eines Bachelor Grades ausgelöst. Wie ich höre, verläuft diese
Diskussion sehr kontroversiell, eines der Hauptargumente der Gegner bezieht sich auf die Gefahr einer "Verschulung" der Universitäten. Vor dem Hintergrund meiner lebenslangen Erfahrungen als Student
an deutschen und amerikanischen Universitäten, als akademischer Lehrer und Forscher in den Vereinigten Staaten, als Gastprofessor in Deutschland, Österreich, Polen und in der Schweiz sowie als
ehemaliger Vorsitzender der Internationalen Ständigen Konferenz für Erziehungsgeschichte beurteile ich diese Befürchtungen sehr gelassen.
Gewiß, wenn man den Blick nur auf einige äußerliche Merkmale richtet, wie z. B. die von den amerikanischen "undergraduate"-Studenten erwartete Anwesenheit bei Vorlesung, Seminar und Übung, das
pünktliche Abliefern von "Hausaufgaben" und das Ablegen von Tests nicht nur am Ende, sondern auch während eines Semesters, dann kann man von "Schulbetrieb" sprechen. Doch dieser "Schulbetrieb" kennt
keine Schulklassen und kein "Sitzenbleiben", denn die Studenten schreiben sich, wie in Europa, für einzelne Kurse ein. Sollte jemand bei der Abschlußprüfung eines Kurses durchfallen, dann kann er
einen anderen Kurs belegen oder, sollte es sich um einen Pflichtkurs handeln, eben diesen Kurs noch einmal durchlaufen, ohne ein ganzes Jahr wiederholen zu müssen.
Zwei Entwicklungen kennzeichnen heute die Erziehungsgeschichte Österreichs genau so wie schon am Anfang des Jahrhunderts die der Vereinigten Staaten: Der Wandel vom akademisch-humanistisch
ausgerichteten Gymnasium zur modernen beruflich-allgemeinbildenden Oberschule und der viel höhere Prozentsatz der Bevölkerung, der heute die Universität besucht. Meine eigene Lehrtätigkeit an
deutschen Universitäten hat mir klar gemacht, daß heute nur noch recht wenige Studenten mit einer soliden humanistischen oder sozial- und naturwissenschaftlichen Allgemeinbildung an die Universität
kommen. Ich mußte zu meiner großen Überraschung feststellen, daß meine Studenten englische Bücher oft nur mit Schwierigkeiten lesen konnten. Aus diesen Gründen muß die Universität wohl oder übel
nachholen, was die Oberschule nicht geschafft hat. Und da setzt in den Vereinigten Staaten das Bachelor-Studium ein.
Für den amerikanischen Studenten dauert das Undergraduate-Studium gewöhnlich vier Jahre. Es wird nach "credits" gemessen, wobei für eine Semesterstunde ein Credit vergeben wird. Bis zum Abschluß
werden 120 Credits verlangt, d. h. 30 für jedes Jahr. Für die meisten Kurse erhält man 3 Credits, für Sprach- oder Laborkurse 5 Credits. Mit anderen Worten, der Student belegt drei bis fünf Kurse pro
Semester. Wenn ich mich an meine Göttinger Studienzeit erinnere, dann belegten wir damals sehr viel mehr Vorlesungen, gingen aber selten hin. In den USA ist's umgekehrt. Man schreibt sich für weniger
Kurse ein; arbeitet in ihnen aber viel intensiver.
Die meisten Kurse haben ihre 6- und 12-Wochen Tests und eine 2·3 stündige Abschlußprüfung. Ohne einen gewissen Zensurendurchschnitt erreicht zu haben, kann man das Studium nicht fortsetzen. Beim
"graduate"-Studium ersetzen oft mündliche oder schriftliche Referate die Tests und Klausuren die Abschlußprüfung. Kandidaten für den Doktorgrad arbeiten dann selbständig und ohne weitere Prüfungen.
Für das akademische Angebot an Vorlesungen und Seminaren ist das Department verantwortlich, das für jedes Semester einen Lehrplan ausarbeitet. Es wird darauf geachtet, daß jeder Student innerhalb von
vier Jahren sein Studium von den Vorlesungen für Anfänger bis zu den Seminaren für Fortgeschrittene durchlaufen kann. Für das Department kommt dann noch das Angebot für die Graduate-Studenten hinzu,
wo ähnliche Überlegungen eine Rolle spielen. Die höhere Verbindlichkeit gilt auch für den Lehrkörper. Kein Professor kann es sich leisten, ein Seminar ausfallen zu lassen, weil er eine Konferenz
besuchen möchte.
Die Abwertung einer größeren Verbindlichkeit bei Vorlesungen, Seminaren und Übungen als "Verschulung" kann ich nicht nachvollziehen. Meine amerikanischen Studenten kamen aus eigenem Antrieb und
Interesse zu meinen Vorlesungen. Bei Seminaren und Übungen hingegen habe ich größten Wert auf Anwesenheit gelegt. Wie kann man als Professor zusammen mit den Studenten ein Thema entwickeln, wenn der
Teilnehmerkreis sich von Treffen zu Treffen ändert? Die im deutschsprachigen Raum oft anzutreffende Gewohnheit, Unverbindlichkeit und Faulheit mit akademischer Freiheit zu entschuldigen, habe ich
immer als unangebracht und schmerzhaft empfunden. Hier würde ich eher von pädagogischer Verantwortungslosigkeit sowohl von Professoren als auch von Studenten sprechen.
Wieder anders verhält es sich beim Graduate-Studium für den Master und den Doktorgrad. Da wird auch in den USA Selbständigkeit von den Studenten verlangt, und man wird sich dann selten über einen
Schulbetrieb zu beklagen haben.
Auf eine Formel gebracht würde ich den Vorwurf der "Verschulung" durch den positiven Begriff "Verantwortlichkeit" ersetzen. Ähnlich wie am Ende des 18. Jahrhunderts, als die Gesellschaft an der
Nutzlosigkeit der von der "studentischen Burschenfreiheit" korrumpierten Universitäten Anstoß nahm und sie zu Reformen zwang, so fordert sie jetzt, daß die Universitäten Verantwortung für das
akademische Lernen ihrer Studenten übernehmen, die überlangen Studienzeiten verkürzen und den Lehrbetrieb straffer organisieren. Die Einführung des Bachelor-Studiums ist ein Mittel zu diesem Zweck.