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Nichts als Hunger, Elend und Not

Von WZ-Korrespondent Philipp Hedemann

Politik

Lokalaugenschein | im weltweit größten | Flüchtlingslager. | Viele Kinder sterben nach den | Strapazen der Flucht.


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Dadaab. "Drei Männer kamen und wollten Osman für den Dschihad gegen die Christen rekrutieren. Da habe ich mir meinen Sohn geschnappt und bin mit ihm davongelaufen." 15 Tage und Nächte lief Jawahir Mohammed Hassan mit ihrem 15-jährigen Sohn in billigen Plastikschlapfen durch die somalische Wüste. Ihr einziges Gepäck: zwei Kanister mit trübem Wasser und ihr schlechtes Gewissen. Denn die Mutter ließ ihren Mann und Hassans sechs jüngere Geschwister in der umkämpften somalischen Hauptstadt Mogadischu zurück, um ihren Sohn vor dem mörderischen Treiben der radikalislamischen Al-Shabaab-Miliz zu retten. Im kenianischen Dadaab, dem größten Flüchtlingslager der Welt, beten Mutter und Sohn jetzt, dass der Rest der auseinandergerissenen Familie nicht für die Flucht des ältesten Sohnes büßen muss.

Auch für Osman ist die Erinnerung noch lebendig. "Die Al-Shabaab-Männer wollten mir eine Kalaschnikow und Dollar geben", erzählt er. "Die gleichen Männer haben meinen Onkel getötet. Wie könnte ich jetzt für sie kämpfen?", fragt Osman, als bedürfe seine Flucht einer Rechtfertigung.

In Dadaab kann fast jeder eine Horror-Geschichte über die Al-Shabaab-Milizen erzählen. Zum Beispiel Abdi Yerow. Auf einen Stock gestützt, humpelt er zu seiner notdürftig aus Gestrüpp und Folien zusammengezimmerten Hütte. "Das war Al-Shabaab", sagt der 55-Jährige und zeigt auf seinen verkrüppelten Fuß. In Somalia hatte der Bauer Tabak angebaut. Doch für die fundamentalistischen Gotteskrieger ist das Teufelszeug. Mehrmals warnten sie Yerow. Als er weiter Tabak anbaute, zerschossen sie dem Familienvater mit einer Kalaschnikow den Fuß. "Sie sagen, sie töten im Auftrag Gottes. Was soll das für ein Gott sein", fragt der fromme Muslim.

Doch mittlerweile ist es nicht mehr nur der schon seit 20 Jahren wütende Bürgerkrieg, der die Menschen nach Dadaab treibt. Im Grenzgebiet zwischen Äthiopien, Kenia und Somalia hat es schon seit sieben Monaten nicht mehr geregnet. Die Dürre, die laut der UNO die schwerste seit 60 Jahren ist, lässt das Land verdorrt daliegen. Viele der Kamele, Ziegen und Schafe, die für die Nomaden in der Region die Lebensgrundlage darstellen, sind bereits verdurstet. Elf Millionen Menschen sind nach Einschätzung der UNO akut von Hunger und Not bedroht.

Angesichts der dramatischen Lage müssen die Registrierungszentren in Daddab für die Neuankömmlinge schon Sonderschichten einlegen. Mittlerweile kommen hier täglich schon mehr als 1500 erschöpfte Menschen nach oft wochenlangen Märschen und Odysseen mit Lastwagen, Bussen und Eselkarren an. Die meisten haben nichts außer der Kleidung, die sie am Körper tragen, und der Hoffnung, irgendwann in ihre Heimat zurückzukehren. Für viele wird die Hoffnung immer Hoffnung bleiben. "Ich glaube nicht, dass Somalia sich in absehbarer Zeit stabilisiert. Das Lager war ursprünglich für 90.000 Menschen ausgelegt, mittlerweile leben hier 380.000 Menschen. Wir sind am absoluten Limit", sagt Richard Floyer Acland, der das Lager des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) leitet. Allerdings ist Dadaab längst kein Lager mehr, sondern nach Nairobi und Mombasa die drittgrößte Stadt Kenias.

Hunger und Gewalt

In einer der Baracken sitzt die 23-jährige Hawo Hurey mit ihrem achtjährigen Sohn Said und ihrer dreijährigen Tochter Habsu. Nach 14 Tagen und 14 Nächten, in denen die Mutter ihre Tochter meist getragen hat, sind die drei nach ihrer Flucht aus Mogadischu völlig entkräftet im Lager angekommen. Mitarbeiter einer Hilfsorganisation haben den Neuankömmlingen Kalorienkekse gegeben, um sie aufzupäppeln. Teilnahmslos knabbern die Kinder an dem drögen Gebäck, ihre Mutter starrt in die Ferne, nirgendwo bleibt der Blick haften. "Ich habe meine Tochter Riyan im Chaos der Flucht verloren. Sie ist doch erst fünf. Wie soll sie es ohne ihre Mutter hierher schaffen?", fragt sie plötzlich leise. Tränen laufen ihr übers Gesicht, mit zitternder Hand reißt die junge Mutter ihrem Sohn den Keks aus der Hand, stopft ihn sich selbst in den Mund als könnte das mürbe Zeug ihre Tränen trocknen.

Auf der anderen Seite einer blauweißen Plastikfolie schreit die sechsjährige Kheyro völlig ungehemmt. Mit regelmäßigem Granatbeschuss ist sie aufgewachsen, doch eine Spritze hat das Mädchen, das noch nie beim Arzt war, in ihrem ganz Leben nicht gesehen. Ihre zwei Jahre ältere Schwester Kaho hingegen erduldet die Polio-Impfung tapfer. "Ich will wieder meine Ziegen hüten, ich will meinen Papa sehen", flüstert das Mädchen. Dass ihre Ziegen alle verdurstet sind, hat ihr ihre Mutter Habibu bereits gesagt, dass ihr Vater den letzten Angriff wahrscheinlich nicht überlebte, noch nicht.

Auch wenn der Krieg und die Flucht Kaho und ihre Schwestern an der Seele krank gemacht haben, sind sie körperlich gesund. Das sind längst nicht alle Kinder im Lager. Schlaff wie alte Haut schlabbert das letzte bisschen Fleisch an Luluey Abdi Ladifs abgemagerten Beinchen, aus den Augen einer Greisin starrt das ausgemergelte Mädchen in die tränengefüllten Augen ihrer Mutter Rabiyo. "Lululey wird jeden Tag dünner. Ich weiß nicht, was ich noch mit ihr machen soll", klagt die Witwe in einem "Ärzte ohne Grenzen"-Posten im Flüchtlingslager. Als die Mediziner das abgemagerte Kind sehen, überweisen sie Mutter und Kind sofort ins Lazarett. Doch Antoine Froidevaux von "Ärzte ohne Grenzen" weiß, dass es dafür längst zu spät sein könnte. "Die Hälfte der Kinder, die nach der langen Flucht im Lager ankommen, sind unterernährt. Manche habe so lange nichts gegessen, dass auch Infusionen sie nicht mehr retten können", sagt der erfahrene Helfer. Diese Not macht selbst hartgesottene Männer fassungslos. "Noch nie habe ich in einem Flüchtlingscamp Menschen in einem so verzweifelten Zustand gesehen", sollte UNHCR-Chef Antonio Guterres nach seinem Besuch in Dadaab sagen.

Doch Gefahr droht nicht nur vom Hunger. "Im Lager sind jede Menge Waffen im Umlauf, denn natürlich gibt es auch Flüchtlinge, die von den Truppen der schwachen Übergangsregierung oder der Al-Shabaab desertiert sind - und die haben ihre Kalaschnikows mitgebracht", sagt Michael Chilla, UNHCR-Sicherheitsberater. Und Vergewaltigungen, Raubüberfälle und Morde sind in den Lagern längst keine Seltenheit mehr.

Kenia öffnet neues Lager

Amina Salat Ali ist eines der Opfer. Als das Mädchen dort, wo das ständig wachsende Lager wie ein Geschwür in die Savanne ausfranst, Holz sammelte, fiel sie nach einem epileptischen Anfall in Ohnmacht. Ein Mann nutzte die Wehrlosigkeit aus, vergewaltige das Mädchen. Knapp zwei Jahre später schleift die 17-Jährige ihre Tochter Nasib hinter sich her. Wenn Männer sie auf den staubigen Straßen Dadaabs komisch ansehen, vermutet Amina, es könnte der Vater des ungewollten Kindes sein. Ihre Tochter zu lieben, wie andere Mütter ihre Kinder lieben, fällt ihr schwer.

UN-Mitarbeiter dürfen derzeit nur noch in Begleitung kenianischer Polizisten mit alten deutschen G3-Sturmgewehren in die Lager, doch kleinere Organisationen fahren ohne Begleitschutz ins Lager. "Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation entführt wird", fürchtet UN-Sicherheitsmann Chilla. Doch es gibt immerhin einen kleinen Hoffnungsschimmer für die Menschen, die hier unter katastrophalen Bedingungen hausen müssen. Nach langen Verhandlungen hat die zunächst zögerliche kenianische Regierung nun der Eröffnung eines weiteren Flüchtlingslagers zugestimmt, das den Druck von Dadaab nehmen soll. In spätestens zehn Tagen sollen 80.000 Menschen in dem neuen Camp unterkommen können.

Die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat aber auch Jawahir Mohammed Hassan, die ihre Familie zurückließ, um ihren Sohn vor den Al-Shabaab-Milizen zu retten. Unter einer UNHCR-Plane sitzend sagt sie: "Irgendwann werden Osmans Vater und seine Geschwister hier auftauchen. Ich hoffe, sie werden uns dann verzeihen."