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Sakralisierung statt Säkularisierung: Kopfmenschen der Moderne mögen ob der zuletzt gewachsenen Zahl der Heiligsprechungen in der katholischen Kirche den Kopf schütteln; aber dieser Trend, der nun mit der Heiligsprechung der beiden Päpste Johannes XXIII. und Johannes Paul II. einen Höhepunkt erreicht, folgt einer anderen Logik. Und dass diese funktioniert, davon zeugen die rund eine Million Menschen, die an diesem Wochenende nach Rom pilgern.
Die Tradition der Heiligenverehrung gibt es in etlichen Glaubenslehren, im Buddhismus, Hinduismus, im Judentum und sogar, wenn auch versteckt, im Islam. Innerhalb des Christentums sind sie aber eine (wenn auch nicht exklusive) Domäne des Katholizismus. Und das gilt vor allem für seine volkstümliche Form.
Patrone gibt es hier für die Ammen und Bergarbeiter, für die Bierbrauer, Anwälte, Bienenzüchter und Stewardessen; für die Autofahrer, Abstinenzler, Fußballer und illegalen Migranten; für Fußleiden, Geschlechtskrankheiten und Krebs; für die Arbeitsruhe, den Frieden im Mittleren Osten und verlorene Sachen; gegen Ameisenplagen, Freigeister und Ausbrüche des Ätna; ja sogar für Bankangestellte, Steuerberater, Barkeeper und gegen Traurigkeit gibt es Bittsteller im Himmel. Kurz: Es gibt praktisch nichts, wofür beziehungsweise wogegen es in der katholischen Kirche keine Heiligen gibt. Allein dies zeigt schon, welche zentrale Rolle die Heiligenverehrung im Alltag einfacher Gläubiger spielte und in weiten Teilen noch immer spielt. Und ausnahmsweise sind darunter gar nicht wenige Frauen.
Dahinter steckt natürlich Strategie, und keine dumme: Mit dem Festhalten an der Praxis der Heiligsprechung stärkt die Kirchenleitung, die - wie jede hierarchische Bürokratie - zur Abgehobenheit neigt, ihre Verbindung zum lebendigen Volksglauben in den zahllosen Ortskirchen. Dass sich im Zuge dessen auch das Papsttum in seiner ganzen Herrlichkeit inszenieren kann, ist mehr als nur ein angenehmer Nebeneffekt.
Und für alle Menschen, die sich mit dem Angst einflößenden Gedanken an ein Nichts nach dem Tod nicht anfreunden wollen oder können, bieten all die Heiligen jenen sprichwörtlich letzten Strohhalm, an den man sich im Alltag wie in Notzeiten nur zu gerne klammert.
Wie gesagt: Das ist nichts für säkulare Intellektuelle, aber fast lebenswichtig für eine lebendige Volkskirche.