Die Genese des Fremdenrechts erzählt viel über dieses Land. Aus ein paar Paragrafen sind zentimeterdicke Wälzer geworden - und niemand kennt sich mehr aus. Wie konnte das passieren? Eine Erzählung in fünf Kapiteln.
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Prolog
Es war einmal. So beginnen normalerweise Erzählungen und Märchen. Doch es passt auch für das sperrige Literaturgenre "Analyse von Gesetzestexten". Zumindest bei einer Geschichte zum Fremdenrecht.
Denn es war einmal ein Fremdenpolizeigesetz aus dem Jahr 1954. Es bestand aus nicht einmal zwei Dutzend Paragrafen und umfasste zwei Seiten. Bis Anfang der Neunziger wurde es lediglich neun Mal novelliert, das erste Mal 1986 nach einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs. Dieses Fremdenpolizeigesetz sowie Teile des Passgesetzes bildeten gemeinsam das Fremdenrecht. Mehr war nicht. Über vier Jahrzehnte.
Was dann folgte, erzählt viel über diese Republik, über Wesen und Unwesen von Politik und Verwaltung. Das Ergebnis lässt sich heute über einschlägige Fachverlage beziehen: Das kommentierte Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz umfasst 914 Seiten, das mit höchstgerichtlicher Judikatur ergänzte Fremdenpolizei- und Asylrecht kann man sogar auf 1954 Seiten studieren.
Wie konnte das passieren? Wie konnte in nur wenigen Jahrzehnten ein legistisches Monstrum fast schon Proust’schen Ausmaßes geschaffen werden? Auf der Suche nach der verlorenen Klarheit dieser Rechtsnormen stößt man auf mehrere Erzählstränge. Es ist eine Geschichte über die Bedeutung der Beamtenschaft, gelebten Föderalismus und das Wirken der Gerichte. Es ist aber auch eine Geschichte über das Funktionieren und das Scheitern der Sozialpartnerschaft, über xenophoben Populismus und politische Reaktionen darauf. Es ist eine Geschichte über Umfärbungen und dessen Folgen. Man könnte also auch sagen: Es ist irgendwie eine Geschichte über Österreich.
Kapitel 1
Im Anfang war das Wort: Fremde. So wurden im Gesetz Personen definiert, "die die österreichische Staatsbürgerschaft nicht besitzen". Das war, einige Jahre nach dem Krieg, bei zahlreichen in Österreich lebenden Menschen der Fall, darunter viele der 300.000 sogenannten Displaced Persons, also ehemalige KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. "Das Gesetz von 1954 war für sie gemacht", sagt Wolf Szymanski, über viele Jahre Legist im Innenministerium. Fremde, so legte man damals fest, waren zum "zeitlich unbeschränkten Aufenthalt berechtigt", wenn sie "ihr Verhalten den österreichischen Gesetzen" anpassen. Szymanski fasst es so zusammen: "Alle, die da sind, dürfen bleiben. Aber sie dürfen sich nicht aufführen." Denn in Paragraf 3 waren dann Gründe für Aufenthaltsverbote detailreich ausgeführt.
Dieser Paragraf bringt Wilfried Ludwig Weh in die Geschichte. Weh ist seit Jahrzehnten Anwalt in Bregenz, er hat sich früh auf Fremdenrecht spezialisiert. Er war es auch, der maßgeblich dafür verantwortlich war, dass sich das Gesetz von 1954 überlebte. Die zuständigen Bezirkshauptmannschaften hatten immer wieder Aufenthaltsverbote wegen Lappalien verhängt. Mit einem solchen Fall zog Weh vor den Verfassungsgerichtshof - und gewann. Der Paragraf 3 zu Aufenthaltsverboten musste 1985 repariert werden, da er gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstieß. Es ging um das Recht auf Familienleben.
Wirklich überraschend war das Erkenntnis damals nicht. Der Migrationsforscher August Gächter vom "Zentrum für Soziale Innovation" ist sich sicher, dass man im Innenministerium schon Ende der 50er, Anfang der 60er wusste, dass dieser Paragraf mit internationalem Recht nicht in Einklang zu bringen war. Es passierte: nichts. Bis Weh eben klagte.
Es war wohl auch zu praktisch. Das kleine Gesetz steckte einen groben Rahmen ab, in dem sich die Behörden bewegen konnten. Und das taten sie auch. Der Westen Österreichs galt damals etwa als besonders streng. Weshalb eben auch der Vorarlberger Anwalt Weh viel zu tun hatte. Den Ermessensspielraum wollten sich die Länder aber nicht einschränken lassen, sie wollten bestimmen, wer bleiben darf, wer gehen muss. Herauskamen freilich Unverhältnismäßigkeiten wie Aufenthaltsverbote aufgrund kleiner Verwaltungsstrafen.
In jenen Jahrzehnten erlebte Österreich drei Flüchtlingswellen sowie die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften. Während ein Asylgesetz völlig fehlte, reichte das schlanke Fremdenpolizeigesetz, um Tausende Gastarbeiter unbürokratisch zu beschäftigen. Sie kamen anfangs mit Touristenvisa, suchten um eine Beschäftigungsbewilligung an, mit dieser erhielten sie dann ihr temporäres Aufenthaltsrecht. Das Gesetz reglementierte die Einwanderung nicht, dafür sorgte vielmehr die Sozialpartnerschaft mit Kontingent-Vereinbarungen. Anders als heute war die Einreise nicht das Problem, sondern das Bleiben.
Bis in die 80er-Jahre funktionierte dieses System recht gut - zumindest aus Sicht der Politik. Auf die Ausländer traf das weniger zu. Die Bürokratie hielt sich zwar in Grenzen, doch die Kehrseite waren prekäre Aufenthaltstitel, Gastarbeiter-Kinder, die keine Beschäftigungsbewilligung erhielten, sowie eine grundsätzlich mangelnde Rechtssicherheit. Anwälte wie Weh bekamen zunehmend zu tun. Und damit natürlich auch der Verwaltungsgerichtshof.
An diesem lag es dann auch unter anderem, dass das lang gelebte System der großen behördlichen Ermessensspielräume ein Ende fand. Das System war aus der Zeit gefallen, der Verwaltungsgerichtshof verlangte nach legistischer Klarheit. Dazu kam, eben im Jahr 1985, das Erkenntnis des VfGH, das zu einer Reparatur des Gesetzes verpflichtete, weil es den Menschenrechten widersprach. Und noch etwas passierte zu jener Zeit, das von großer Bedeutung werden sollte: Jörg Haider übernahm die FPÖ.
Kapitel 2
Im Juni 1989 trafen einander die Innenminister Deutschlands und Österreichs zu einem Austausch. Beide waren kurz davor ins Amt gekommen, Wolfgang Schäuble in der BRD, Franz Löschnak in Österreich. Im Ostblock war einiges in Bewegung geraten, und Löschnak war besorgt: "Was ist mit Ostdeutschland?" So erinnert er sich heute an die Frage an Schäuble. Dessen Antwort: In den nächsten ein, zwei Jahren werde nichts passieren. Nur wenige Monate später fiel in Berlin die Mauer.
Einige Jahre davor war Jörg Haider in der FPÖ an die Macht gelangt. Und auch wenn es noch ein paar Jahre dauern sollte, bis sich die Blauen so richtig auf das Ausländerthema einließen, war es schon davor ein virulentes politisches Problem geworden, allerdings eher hinter den Kulissen.
Lange hatte nämlich die Gewerkschaft daran festgehalten, dass die Gastarbeiter tatsächlich Gäste sind - und wieder gehen. Aus diversen Gründen war dies nicht der Fall, gleichzeitig blieben diese Arbeitskräfte in ihrer prekären Situation mit unsicherem Bleibestatus. Das machte sie als Arbeitskräfte vulnerabel.
Der Gewerkschaft waren die Rechte der Gastarbeiter zwar kein großes Anliegen, höflich formuliert, "aber auch für Einheimische hat sich das nicht günstig ausgewirkt", erzählt Gächter. Der sozialpartnerschaftliche Konsens wich einem Konflikt, die Gewerkschaften erhöhten zunehmend den Druck auf die regierende SPÖ. Auch Löschnak bestätigt den wachsenden Druck aus dem ÖGB.
Zu wissen, dass in jenen Jahren politisch sehr viel in Bewegung war, ist notwendig, um die fremdenrechtliche Zäsur, die folgen sollte, zu verstehen: In Osteuropa brach ein Regime nach dem anderen zusammen; im März 1991 begann der Jugoslawienkrieg; im November 1991 verlor die SPÖ die Absolute in Wien, nachdem die FPÖ erstmals einen Ausländer-Wahlkampf geführt hatte; im Jahr darauf kündigte Haider sein Volksbegehren "Österreich Zuerst" an.
Im Innenministerium saß zu jener Zeit ein in Regierungsangelegenheiten bereits sehr erfahrener Mann. Franz Löschnak war zwar erst im Februar 1989 Karl Blecha als Innenminister nachgefolgt, doch er war bereits seit 1977 Teil der Regierung, zuerst als Staatssekretär, später als Gesundheitsminister. Aus diesem Ressort nahm Löschnak seinen Referenten Manfred Matzka mit. Gemeinsam mit dem ehemaligen Außenminister Willibald Pahr baute dieser das Fremdenrecht komplett um.
Mit dem Asylgesetz 1991, dem Fremdengesetz 1992, vor allem aber mit dem Aufenthaltsgesetz 1993 brach legistisch in Sachen Fremdenrecht eine neue Zeit an. Mit dem auch verwaltungsrechtlich oft problematisierten Grundsatz, den Behörden einen großen Ermessensspielraum einzuräumen, wurde mit dieser Zäsur gebrochen. Das wirkte sich auch im Umfang dieser Gesetze aus, der beträchtlich zunahm, wenngleich er damals noch im Rahmen blieb.
Es gab eine zweite fundamentale Änderung: Der Schwerpunkt der Regulierung lag ab diesem Zeitpunkt bei der Einreise, nicht mehr beim Arbeitsmarkt. Damit waren auch die Sozialpartner in Fragen der Einwanderung weitgehend aus dem Spiel. Die Kompetenz wanderte ins Innenministerium. Und dieses war seit 1970 in Hand der Sozialdemokratie. Sie konnte nun einfacher gewerkschaftliche Wünsche erfüllen.
Löschnak ist heute 79 Jahre alt. Zu jener Zeit stand er inmitten einer erbitterten Debatte um das neue Thema Nummer eins. Haider machte Druck von der einen Seite, den Grünen und Linken in der SPÖ war Löschnak zu restriktiv. "Wir haben, wie wir glaubten, ganz gute Regelungen gehabt", sagt Löschnak.Waren sie das?
Die Rahmenbedingungen waren sicher nicht einfach. Zum einen die Flüchtlingsbewegung aus Jugoslawien, zum anderen der Bedarf, die vielen prekär aufhältigen oder gar illegal gewordenen Gastarbeiter rechtlich abzusichern. Es ist nur leidlich gelungen. Unter anderem auch, weil die Zuständigkeit in der Vollziehung wechselte. In Wien, so erzählt Szymanski, wurde eine neue Behörde dafür geschaffen. In den Bundesländern wurden die Stellen direkt beim Landeshauptmann angesiedelt. "Es war ein bunter Teppich im Vollzug, aber es gab kaum Expertise", erzählt Szymanski.
Die einst großen Ermessensspielräume waren verschwunden, und auch die Polizei hielt sich penibel an die Buchstaben des Gesetzes. Genau damit hatten aber die Autoren des Gesetzes nicht unbedingt gerechnet. Die Folge waren zahlreiche Härtefälle. Auf politischer Ebene waren es vor allem die Grünen, die darauf aufmerksam machten. Menschen, die jahrelang in Österreich gelebt und gearbeitet haben, aber bei der Verlängerung ihres Aufenthaltstitels eine Frist um einen Tag versäumt hatten, wurden des Landes verwiesen. Selbst Kindern drohte die Abschiebung, obwohl ihre Eltern legal in Österreich lebten.
Löschnak geriet unter Druck. Heute sagt er: "Man kann in einem Gesetz nicht jeden Einzelfall im Auge behalten. Ein Fehler war, dass der Innenminister keine sozialen Entscheidungen treffen konnte. Es gab keinen humanitären Aspekt." Das war auch politisch ein Problem Löschnaks. Hätte er per Weisung die publik gewordenen Härtefälle lösen können, wäre sein öffentliches Bild wohl ein anderes gewesen. So aber blieb "sein" Gesetz und dessen Folgen im Fokus. Es war das erste echte Fremdengesetz, und es hatte offenkundig Schwächen. In der politischen Verantwortung stand Löschnak, ihn nannte Jörg Haider "meinen besten Mann" in der Regierung. Es war eine gezielte Provokation, die aber wirkte. "Ich war ein Pragmatiker", sagt Löschnak heute. Auch Wegbegleiter attestierten ihm dies, doch in der Politik greifen manchmal schwer kontrollierbare Mechanismen. 1995 musste Löschnak Caspar Einem Platz machen.
Kapitel 3
So sehr sich die Linken in der SPÖ über diese Personalentscheidung freuten, so gab es doch von Beginn an Widerstände gegen Einem. Er sollte auch nur zwei Jahre Innenminister bleiben. In seiner Amtszeit entstand aber eine neue Fremdengesetzgebung, teilweise trat sie aber erst nach seinem Abschied in Kraft.
Das Fremdengesetz 1997 umfasste dann schon mehr als 100 Paragrafen. Es regelte nicht nur die Einreise, sondern auch den Aufenthalt von Ausländern. Daneben gab es nur noch das Asylgesetz, das Fremdenpolizeigesetz 1954 hatte endgültig ausgedient.
Für den erfahrenen Anwalt Wilfried Ludwig Weh ist dieses Gesetz "das beste, das es je gab". Es war schon umfassend, das gibt auch Wolf Szymanski zu, der als Legist dieses Gesetz erarbeitet hatte. "Meine Gesetze waren schon schwer verständlich, aber man hat für alle denkbaren Fälle eine vernünftige Lösung gesucht", sagt Szymanski. Und "denkbare Fälle" gab es eben viele, die Biografien waren sehr verschieden.
Familienangehörige von Ausländern wurden bessergestellt und dem Recht auf Familienleben gesetzlich eher entsprochen. So wurde etwa der Zugang zum Arbeitsmarkt für Angehörige erleichtert. Die Zuwanderung aus Drittstaaten konzentrierte sich dadurch aber mehr auf Familienzusammenführung, nicht mehr auf Arbeitsmigration wie früher.
Ein ganz wesentlicher Absatz fand sich in Paragraf 35: "Fremde, die von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen sind, dürfen nicht ausgewiesen werden." Genau das legalisierte die immer größer werdende Gruppe von Personen ohne österreichische Staatsbürgerschaft, die sogenannte "Zweite Generation", die hier aufgewachsen war. Mit dieser Formulierung erklärte die Republik sehr klar, dass sie sich für diese Bürgerinnen und Bürger verantwortlich fühlt - auch wenn sie straffällig werden. Das war neu.
Das Gesetz erleichterte die Zuwanderung nicht, wohl aber Familienleben, Arbeit und Rechtsstatus hier lebender Ausländer. Tatsächlich gab es in den zwei Jahren unter Innenminister Einem praktisch eine Null-Zuwanderung. Die Zahl der Einbürgerungen stieg aber an, wobei das Gesetz nicht geändert worden war. Das passierte nur aufgrund der Fristen. Die FPÖ hatte damit ein neues Wahlkampfthema, und 1999 führte Haider die FPÖ mit ihrem besten Ergebnis auf Platz zwei. Es war das Ende der sozialdemokratisch gefärbten Migrationspolitik.
Kapitel 4
Das Jahr 2000 brachte der Republik die "Wende". Und es wendete sich auch die Zuwanderungspolitik. Ernst Strasser, der erste ÖVP-Innenminister seit 1970, baute gleich das Ressort um - inklusive neuer Farbgestaltung, versteht sich. Bald wurde auch an einer neuen Asylgesetzgebung gearbeitet. Die Versetzung und Umgehung erfahrener Beamter erwies sich bei der Erarbeitung des neuen Asylgesetzes aber als problematisch. Es ging viel Know-how verloren. Der Verfassungsgerichtshof hob 2004 wesentliche Teile des Asylgesetzes auf, der damalige VfGH-Präsident Karl Korinek kritisierte die legistische Qualität öffentlich. Das gesamte Gesetz sei "nicht gut gelungen."
Unter ÖVP-FPÖ-Regierung wurde nicht nur am Asylgesetz herumgedoktert, sondern auch das Fremdengesetz geändert. Diesmal war es die ÖVP, die Kraft des Innenministeramtes parteinahen Interessen entsprechen wollte. Der Wirtschaft gelang es so, die Erweiterung der Saisonarbeiter-Regelung durchzusetzen. Der ÖGB tobte. Doch die wenige Zuwanderung davor war eben vor allem dem Familienleben geschuldet.
Gegen Ende der Legislaturperiode schuf Schwarz-Blau dann sein fremdenrechtliches Vermächtnis. Mit einem Gesetzespaket 2005 (Fremdenpolizeigesetz, Asylgesetz, Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz) wurden die heute noch gültigen Rechtsnormen beschlossen, und kurz vor dem Machtwechsel auch noch der Zugang zur Staatsbürgerschaft stark eingeschränkt. Beim Fremdenrechtspaket 2005 stimmte die SPÖ mit, das brachte ihr innerparteilich herbe Kritik ein. Denn natürlich war das schwarz-blaue Gesetz restriktiv, und es schränkte wieder das Recht auf Familienleben ein. Vier SPÖ-Abgeordnete fehlten bei der Abstimmung, darunter Ex-Innenminister Einem.
Im Vollzug der Gesetze war man bald wieder dort angelangt, wo man Anfang der 90er war: bei einer Vielzahl von Einzelfällen. So sollte etwa eine 80-jährige behinderte Türkin abgeschoben werden, 2007 erregte dann der Fall Arigona Zogaj großes Aufsehen. VfGH-Chef Korinek wies immer wieder auf Fehler und verfassungsrechtlich bedenkliche Punkte im Fremdenrecht hin. Die Dauer der Asylverfahren wurde immer länger, die Fälle komplexer.
Kapitel 5
Ab dem Jahr 2008, unter Rot-Schwarz, kam es zu Novellierungen im Fremdenrecht, und sie kamen in einer Vielzahl. Die drei relevanten Gesetze wurden allein 2009 zehn Mal geändert. Wieder war auch der VfGH daran beteiligt, denn das österreichische Recht hatte sich wieder von den Menschenrechten entfernt. Es wurde höchstgerichtlich der Begriff des Bleiberechts im Asylrecht definiert, fortan musste geprüft werden, ob ein Familienleben besteht.
Die Novellierwut des Gesetzgebers hat seither nicht abgenommen. Das Asylgesetz wurde seither 20 mal, das Fremdenpolizeigesetz 24 mal und das Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz sogar 30 mal geändert. Manchmal waren es VfGH-Entscheidungen, andere Male politische Wünsche, oder es lief nur auf Beamtenebene ab. Dabei war und ist es durchaus ein Ziel, mit Präzisierungen für mehr Rechtsstaatlichkeit zu sorgen. Doch einerseits ging dadurch die Flexibilität im Vollzug verloren, andererseits überfordern und überlasten die Rechtsnormen das ganze System. Rund 37 Prozent der negativen Bescheide des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl werden vom Bundesverwaltungsgericht abgeändert. Das Gericht ist vollkommen überlastet, 80 Prozent der Fälle betreffen das Fremdenrecht.
"Die Gesetze sind kasuistisch geworden. Man versucht, jeden Fall zu lösen", sagt Franz Löschnak. Doch kein Gesetz kann für alle Fälle Vorsorge treffen. Und kaum ist ein Gerichtsurteil in einem spezifischen Fall gesprochen, wird am Gesetz wieder herumgeschraubt. Es soll ja wasserdicht sein. Dadurch wächst es aber immer weiter, wird komplizierter, unverständlicher, erratischer. Die Folge sind dann neue Härtefälle. Es ist zu einer Art legistischer M.C.-Escher-Grafik geworden, in der es keinen logischen Weg mehr zu geben scheint.
Doch wie findet man aus dieser Geschichte wieder den Ausgang? Zur Erinnerung: Begonnen hat alles mit eineinhalb Seiten Fremdenpolizeigesetz und einem großen Spielraum der Behörden. Das ist in Zeiten des EU-Binnenmarktes und eines außereuropäischen Migrationsdrucks nicht mehr passend. Doch die jetzige Gesetzgebung, und hier gibt es kaum eine zweite Meinung, funktioniert so nicht mehr.
Nun hat das iberische Schicksal der Republik eine Beamtenregierung geschenkt. Im Innenministerium sitzt Wolfgang Peschorn. Er könnte zum ersten Innenminister seit Ewigkeiten werden, in dessen Amtszeit das Fremdenrecht nicht novelliert, also nicht noch komplexer, nicht noch unmöglicher wird. Aber kann es besser werden? "Man muss es neu schreiben", sagt Anwalt Weh. Und auch Legist Syzmanski sieht keinen anderen Ausweg. Das wird Peschorn nicht tun, dazu fehlt ihm und der Regierung die demokratische Legitimation. Aber Peschorn könnte den Vollzug evaluieren. Die Verwaltung ist gesetzlich verpflichtet, "sparsam, zweckmäßig und wirtschaftlich" zu agieren. Ist das mit diesen Gesetzen noch möglich? Werden damit faire Verfahren gemäß Artikel 6 der Menschenrechtskonvention, gewährleistet? Das Recht auf Familienleben gewahrt?
Epilog
Der Grazer Anwalt Ronald Frühwirth schließt im November seine Kanzlei. Das gab er kürzlich bekannt. Er hatte sich auf Fremden- und Asylrecht spezialisiert. "Ich mag nicht mehr", schreibt er.
Zu viele Gespräche hätten mit
"Blicken voller Verzweiflung" geendet. Zu viele seiner Mandanten seien in "Elend, Lebensgefahr"
abgeschoben worden. "Dabei geriet nun meine Verbundenheit mit
diesem Rechtssystem ins Wanken. Als Rechtsanwalt bin ich Teil davon. Das möchte ich nicht mehr sein.